Im Rahmen des Heidelberger Stückemarktes war am letzten Sonntag „Der Chinese“ im Theater Heidelberg zu sehen. Die Adaption unter der Regie von Max Merker verlegte das eigentlich in Deutschland spielende Stück in die Schweiz und bewies, wie gut das funktioniert.
„Willkommen im Heimatfilm“ könnte eine passende Begrüßung lauten. Jedenfalls scheint die Familie, die man auf der Bühne kennenlernt, aus einem solchen entsprungen zu sein. „Uns geht’s gut“ ist der Wahlspruch, den die Eltern ihren Kindern immer wieder eintrichtern. Dafür werden die Schweizer ja auch überall in der Welt beneidet. Warum das so ist? Natürlich weil sie so tüchtig sind. Und weil sie auch gastfreundlich und weltoffen sind, dürfen ein paar Chinesen ins Land kommen, um von den Schweizern zu lernen.
Als dann aber „der Chinese“ – hervorragend gespielt von Mario Gremlich – eintrifft, verläuft alles ganz anders. Der Mann, den man eigentlich belehren will, bringt nichts als „schädliche“ Einflüsse in das behütete Leben der Familie. Das fängt beim Plastikspielzeug an, das er den Kindern schenkt. Außerdem führt er ein Mobiltelefon bei sich. Und dann schlägt er auch noch vor, chinesisch zu kochen – bestimmt mit viel Phosphat! Das passt den Ökos natürlich gar nicht. Schnell werden die ersten Überlegungen angestellt, wie man den Chinesen wieder loswird. Außerdem hat er beunruhigend viel Interesse an der Arbeit des Vaters, dieser ist Erfinder. Vielleicht ist der Chinese ja zum Spionieren geschickt worden.
Besonders eindrucksvoll spielen Jan-Philip Walter Heinzel und Atina Tabé in den Rollen der Eltern die zunehmende Verzweiflung über den befürchteten Kontrollverlust. Obwohl der Chinese doch so schlecht ist, mögen ihn die Kinder immer mehr. Selbst das ungesunde Plastikspielzeug gefällt ihnen. Die Lage eskaliert immer weiter, bis man schließlich bereit ist, alles zu tun, um dem ein Ende zu bereiten. Hier wird das Stück bewusst überdreht und arbeitet mit eindrücklichen Bildern, etwa als sich der Vater in Rüstung schmeißt, um dem Chinesen gegenüber zu treten.
Überhaupt zeichnet der Regisseur mit viel Blick fürs Detail dieses Bild einer typischen Schweizer Familie. Es geht ihm darum, die Scheinheiligkeit der „Gastfreundschaft“ zu entlarven, stellt er im Nachgespräch fest. Im ersten Moment noch weltoffen, kehrt sich diese Einstellung sehr schnell ins Gegenteil um, nämlich dann, wenn die eigene Identität bedroht wird. Weltoffen heißt im Stück so viel wie: Die anderen können kommen und von uns lernen. Wir aber sind schon perfekt und haben keinen Grund, uns zu verändern. Damit legt der Regisseur seiner Inszenierung einen explizit sozialkritischen Ansatz zu Grunde.
Ursprünglich spielt das Stück in Deutschland, aber mit wenigen Umstellungen ließ sich die Handlung problemlos in die Schweiz verlegen. Würde man von dem Ortswechsel nicht wissen, wäre er einem als Zuschauer überhaupt nicht aufgefallen.
Bei all den Parallelen regt das Stück natürlich zu einer Interpretation im Sinne der Flüchtlingsthematik an, was aber vom Autor nicht so gedacht war, als er es 2011 veröffentlichte. Auf jeden Fall aber hält das Stück einigen Menschen den Spiegel vor und fragt: Wie echt ist eure „Gastfreundschaft“ und welches Bild habt ihr von euch selbst?
Von Justin Reuling