Die Zahl der Abiturientinnen und Abiturienten steigt jährlich. Die Hochschulreife zu erreichen, wird angeblich immer einfacher. Kommen die angehenden Studierenden wirklich mit schlechteren Voraussetzungen an die Uni?
Die Anzahl der Abiturientinnen und Abiturienten ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Währenddessen sinkt das durchschnittliche Alter der G8-Abiturienten. Im Alter zwischen 17 und 18 Jahren ist ein Jahr wertvoll: Das Schuljahr, das im Vergleich zu G9 fehlt, bräuchten die Schülerinnen und Schüler für ihre Entwicklung.
Entscheidungen wie die Berufswahl, das Studienfach oder das Abschließen von Mietverträgen müssen zu früh getroffen oder von den Eltern unterstützt werden.
Dieses Bildungssystem ist von ökonomischen Interessen geleitet – pädagogische Aspekte müssen hintenan stehen. Dabei bringt es den Schülern nichts: Die Lehrinhalte der Schulen und Universitäten passen nicht zueinander, mit Brückenkursen muss fehlendes Wissen aufgearbeitet werden. Dass immer mehr Schülerinnen und Schüler das Abitur absolvieren – sogar mit Bestnoten – heißt nicht, dass die Kompetenzen den Eingangsvoraussetzungen der angehenden Studierenden an der Hochschule nutzen.
Die Abiturientinnen und Abiturienten sind durch das G8-System zu unreif für das Studium.
Die G8-Abiturienten sind im Schnitt ein Jahr weniger reif. Im Alter von 17 beziehungsweise 18 Jahren ist dieses eine Jahr eine Menge.
Die jungen Leute können selbst nichts dafür. Aber da hat die Schulpolitik mal wieder rein ökonomisch gedacht und nicht entwicklungspsychologisch beziehungsweise pädagogisch. Allein die Tatsache, dass heute rund ein Achtel der Studienanfänger Mama oder Papa braucht, um sich einzuschreiben und am Hochschulort einen Mietvertrag zu unterzeichnen, zeigt, dass hier etwas schief gelaufen ist. Ein Jahr mehr in einem gut strukturierten G9 wäre nicht nur hinsichtlich fachlicher Breite und Vertiefung, sondern auch hinsichtlich Berufswahlreife ein wichtiges Jahr. Es ist nun einmal so, wie es ein afrikanisches Sprichwort sagt: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
Das Abitur wird immer leichter, dadurch kommt es zu einer Noteninflation.
Gegen eine Bildungsinflation hätte ich nichts. Ich befürchte allerdings eine Inflation an Bestnoten und an super Abiturzeugnissen, die ungedeckte Schecks sind. Mathematisch kompliziert ausgedrückt: Quantität beziehungsweise Quote und Qualität verhalten sich reziprok. Einfacher ausgedrückt: Wenn ich – was die Politik zum eigenen Ruhme offenbar will – die Studierquote nach oben schreiben will, muss ich die Ansprüche absenken. Das ist in vielen deutschen Ländern geschehen. Die Tatsache, dass immer bessere Noten beim Abitur zustande kommen, belegt nicht, dass die Abiturientinnen und Abiturienten immer besser würden.
Nein, diese Tatsache belegt nur, dass die Anforderungen zurückgenommen wurden. Anders ist es nicht zu erklären, dass in fast allen deutschen Ländern die Zahl der 1,0-Abiturzeugnisse sich innerhalb kürzester Zeit oft mehr als verdoppelt hat. Den jungen Leuten bringt das aber nichts. Man gaukelt ihnen vor, sie wären studierfähig, oft sind sie aber nur studierberechtigt.
Meine große Sorge ist jedenfalls, dass das Abitur immer mehr entwertet wird und die Hochschulen eines Tages noch mehr einseitige Zugangstests einrichten.
Die hohe Abbruchquote unter Studierenden ist durch den früheren Schulabgang bedingt.
Das wundert mich gar nicht. Es ist allerdings von Fachbereich zu Fachbereich sehr unterschiedlich. Vor allem die Fachbereiche WiMINT machen wir Sorgen, also die Bereiche Wirtschaftswissenschaften, Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften.
Hier ist die Abbrecherquote viel zu hoch. Das hat aber unter anderem damit zu tun, dass die Studienanfänger gerade in der Mathematik nicht mehr das aus der Schule mitbringen, was sie für das Studium bräuchten; 130 Mathematikprofessoren haben dies kürzlich in einer Resolution öffentlich beklagt. Und die Hochschulen sehen sich gezwungen, mehr und mehr Brückenkurse einzurichten, um den Studienanfängern das zu vermitteln, was sie in der Schule hätten erlernen können beziehungsweise müssen. Das aber darf nicht die Aufgabe von Hochschule sein.
Josef Kraus ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und war selbst 15 Jahre Lehrer