In der deutschsprachigen Erstaufführung von „Wo die Barbaren leben“ verhandeln die Figuren als surreale Projektionen die Entstehung von Feindbildern
[dropcap]E[/dropcap]ine riesige Fratze hängt, auf einen Ballon gestrahlt, über den Köpfen der Zuschauer. Die Zähne sind mit einer Lupe vergrößert, wirken abstoßend, surreal, bedrohlich. Die Bedrohung wird durch die ungewöhnliche Kulisse erhöht: Das grüne Dickicht des Tropenhauses, die leicht feuchtwarme Luft unter dem Glasdach und die Stimmen, die inmitten des Grüns nicht zugeordnet werden können. Das Theater Heidelberg hat sich für die deutsche Erstaufführung des Stücks „Wo die Barbaren leben“ eine ganz besondere Bühne ausgesucht – das Tropenhaus des Botanischen Gartens. Das Stück des chilenischen Dramatikers Pablo Manzi genoss bereits beim iberoamerikanischen Festival „Adelante“ eine große Zustimmung. Daher zeigt das Theater das Stück nun unter der Regie von Luise Voigt zum ersten Mal in deutscher Sprache.
„Wohin wollen Sie mich schicken? Niemand weiß, wer draußen in den Wäldern lebt“, ängstigen die Schauspieler das eintretende Publikum. Wohnen die Barbaren dort im Wald? Von Beginn an sind die Zuschauer mittendrin, sie sind zwischen Bambuspalmen, hohen Farngewächsen und einer Atmosphäre der Bedrohung gefangen – genau dort, wo die Barbaren leben. Wer sind sie?
Drei Cousins aus bürgerlichem Milieu treffen sich nach langer Zeit wieder. Das Stück dreht sich um ihr Wiedersehen. Allein ihre Köpfe sind zu sehen – in Großformat auf weißen Ballons. Die Schauspieler stehen dabei im Dickicht des Gartens, ihre Köpfe sind von schwarzem Stoff umhüllt. Eine einzige Blickrichtung gibt es nicht, die Ballons hängen mit großem Abstand im tropischen Grün, sodass einige Kopfverrenkungen notwendig sind, damit aus dem Theaterstück kein Hörspiel wird. Die Zuschauer können die Entstehung der Videoeffekte selbst beobachten, wenn sie durch das Blattwerk nach den Schauspielern spähen, die isoliert im Dickicht stehen. Doch im Vordergrund stehen nicht die realen Personen, sondern die verfremdenden Projektionen. Die Übertragung auf die weiße Ballonoberfläche verstärkt den illusionären Charakter und transportiert die Handlung von der Wirklichkeit in einen virtuellen Raum. Das Schauspiel arbeitet wegen des Fokus auf das Gesicht nicht mit großen Gesten, sondern mit der Mimik. Die kleinsten Gefühlsregungen werden überdeutlich. Hervorgehobene Gesichtspartien – Augen oder Zähne – wirken durch Lupen oder Gläser verzerrt, barbarisch. Mit Filtern oder farbiger Beleuchtung gewinnt die Mimik eine besondere Intensität und Bedrohlichkeit. Illusionen entstehen durch Spiegel; in der Spiegelung wirken die Gesichtszüge wie aztekische Statuen.
Das Kammerspiel enthüllt Geheimnisse, die an den moralischen Abgrund führen. Lautstark Kaugummi schmatzend wird Raphael Gehrmann als Cousin Nicolás eingeführt. „Gestern habe ich gesehen, wie sie auf der Straße eine Frau umbrachten“, erklärt Nicolás. „Was?“ Während die Cousins in theoretisierenden Rededuellen über die Barbaren sprechen, offenbaren sie ihre Doppelmoral: Sie sind diejenigen, die barbarisch gehandelt haben. Nicolás war Augenzeuge des Verbrechens. Auch Roberto griff nicht ein, als ein Mädchen zu Tode geprügelt wurde. Die Cousins dudelten die Gewaltexzesse als passive Zuschauer. Die anfängliche Bestürzung über die indirekte Mittäterschaft relativieren sie aber: Die Ermordeten waren ein Prostituierte und ein Neonazi. Aber die Barbaren – das können nur die anderen sein. Die Frage nach den Barbaren wird hier zum unlösbaren Problem, denn ein jeder scheint barbarisch zu sein. Nicht nur die Cousins merken, dass die Barbaren unter ihnen sind. Auch die Zuschauer schrecken auf, als Roberto plötzlich aus dem dunklen Unterholz hervortritt – dieser Barbar wohnt im Wald. Die Bedrohung, die die Figuren durch die Barbaren spüren, ist eine Konstruktion der Cousins, sie grenzen sich gegen alles ab, das nicht in ihre Wir-Gruppe gehört. Doch die von ihnen geschaffene Grenze ist eine Farce: Ihre eigene Familie handelt barbarisch. Dadurch gerät ihr Weltverständnis ins Wanken. Gut, dass die Taten gerechtfertigt werden können: Keiner der eigenen sozialen Gruppe ist durch fehlende Hilfeleistung gestorben, sondern lediglich Frauen, die sozialen Minderheiten angehören. Vorurteile beherrschen ihr Denken. So zeigen sie exemplarisch, wie Freund- und Feindbilder entstehen und entlarven diese als ungerechtfertigt.
[dropcap]D[/dropcap]as Kammerspiel geht auf historische Diskurse zurück: Peruanische Einwanderer werden in Chile als Barbaren bezeichnet. Die Vorurteile gegenüber den Peruanern basieren auf fremdenfeindlichen, klassengesellschaftlichen und rassistischen Diskursen. Zudem üben neonazistische Banden, sogenannte „Barridas“, Gewalt an Immigranten, Homosexuellen oder Prostituierten aus, während das Bürgertum untätig zuschaut. Leider sind die Bezüge auf die Situation in Chile in dem Stück für den Zuschauer nicht deutlich, denn weder die Dialoge noch die erzählenden Passagen liefern das nötige Hintergrundwissen. Ebenso wenig greifbar wie die virtuellen Schauspieler bleibt also auch der Kontext des Stücks.
Weil die überdimensionalen Männer monoton von den Ballons herab sprechen, ist das Theaterstück und der techniklastigen Kunstinstallation ermüdend. Die düster wuchernde Vegetation und die optisch verzerrten Nahaufnahmen sorgen für ein Unbehagen, das schon von Beginn der Vorstellung vorherrscht. Immerhin zeigt das Stück – ohne erhobenen Zeigefinger – auf, dass Fremdenfeindlichkeit und Gewalt nicht der richtige Weg sind. Trotzdem überzeugt das Stück wegen der starken Abstraktion nicht, die Bühne inmitten des botanischen Waldes verleiht ihm dennoch einen besonderen Charakter.
Von Lea Dortschy
[box type=“shadow“ ]
Das Stück von Pablo Manzi beginnt bei jeder Vorstellung um 20 Uhr. Es dauert 1 Stunde und 10 Minuten. Es wird noch bis Sonntag, 29. Oktober gespielt.
Termine:
23.9., 24.9., 26.9., 27.9., 28.9., 1.10., 3.10., 7.10., 11.10., 21.10., 22.10., 23.10., 29.10.
Botanischer Garten Heidelberg
[/box]
Merken
Merken
Merken