In der taiwanesischen Hauptstadt Taipei stürmen Studenten ein Musikfestival der Talentshow „Sing China!“ – und entfachen eine Staatskrise um die Unabhängigkeit Taiwans von China
Gegen Morgen des 24. September findet auf dem Campus der Nationaluniversität Taiwan (NTU) ein Open-Air-Konzert des Talentwettbewerbs „Sing China!“ statt – produziert von einem staatlichen Rundfunksender aus der Volksrepublik China. Wie bei „Deutschland sucht den Superstar“ stellen die Kandidaten bei „Sing China!“ vor einer Jury ihr musikalisches Können unter Beweis.
Aber nicht alle Konzertbesucher sind wegen der Musik gekommen: Kurz nach Beginn der Veranstaltung übertönen etwa hundert Studierende die Popmusik mit Sprechchören und Trillerpfeifen. „Ein unabhängiges Land gründen“, „Freies Taiwan“ und „Selbstbestimmung für die, die hier leben“ ist auf Transparenten zu lesen. Die Studenten durchbrechen die Sicherheitssperre und stürmen die Bühne. Gegen vier Uhr beendet die Universitätsverwaltung aus Sicherheitsbedenken das Konzert. Kurz darauf stößt ein Anhänger der pro-chinesischen Wiedervereinigungspartei mit einem protestierenden Studenten zusammen. Ein Youtube-Video zeigt, wie das einundsechzigjährige Parteimitglied dem Studenten mit einem Schlagstock ins Gesicht prügelt.
Die Protest-Teilnehmerin Guo Renting sagt im Anschluss zu Journalisten: „China benutzt solche fadenscheinigen Freizeitveranstaltungen, um einen Krieg für die Vereinigung Taiwans mit dem chinesischen Festland zu führen. Wir sind nicht China. Dieser Vereinigungskrieg ist eine Invasion.“
Die Studenten kritisieren, dass die Universität auf Veranstaltungsplakaten als „Taiwan City Taiwan University“ bezeichnet wird – eigentlich heißt sie „Nationaluniversität Taiwan“. Die Umbenennung sehen die Protestierenden als einen Angriff auf Taiwans Unabhängigkeit. Die Auslassung des Namensbestandteils „National“ degradiere Taiwan zu einer Provinz der Volksrepublik China. Zudem erinnert das Logo von „Sing China!“ stark an die Nationalflagge der Volksrepublik. Hier reckt eine Faust eine Fackel empor, dessen stilisierte Flamme aus fünf Sternchen besteht – ähnlich der Nationalflagge Chinas.
Tatsächlich betrachtet die Volksrepublik China Taiwan als abtrünnige Provinz und Teil ihres Staatsgebiets. Dieser Konflikt geht auf den Bürgerkrieg zwischen der westlich orientierten Partei Kuomintang und der Kommunistischen Partei Chinas zurück. Die Kuomintang regierte nach dem Sturz der Qing-Dynastie ab 1912 das chinesische Festland, wurde aber 1949 von den Kommunisten nach Taiwan vertrieben. Seitdem erhebt die Volksrepublik China unter der „Ein-China-Politik“ den Anspruch, die alleinige legitime Vertretung des ganzen chinesischen Volkes zu sein.
Taiwan ist nicht nur in Hinsicht auf Chinas nationale Identität von großer Bedeutung: Mit seinen 23,5 Millionen Einwohnern nimmt Taiwan bei einem Bruttoinlandsprodukt von 528 Milliarden US-Dollar den 22. Platz der wirtschaftsstärksten Staaten ein. Noch bedeutender ist Taiwans geostrategische Lage: Die Volksrepublik China sieht sowohl das Südchinesische Meer als auch das Ostchinesische Meer als Teil ihres Staatsgebiets. Würden Taiwan und China vereinigt, könnte die Volksrepublik die Meerenge kontrollieren, die beide Meere miteinander verbindet. Die Taiwanstraße passieren jedes Jahr Waren im Wert von 19 Billionen Dollar. Dies entspricht in etwa 30 Prozent des Welthandelsvolumens.
China führt einen Krieg um die Vereinigung mit Taiwan
Im Jahr 1971 schloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen auf Betreiben der Nixon-Regierung Taiwan – dessen offizieller Titel „Republik China“ lautet – aus allen Organisationen der Vereinten Nationen aus. Dadurch erhielt die Volksrepublik China erstmals einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat, den vorher die Republik China innehatte. Seitdem befindet sich Taiwan international in einer prekären Lage. Auf Druck der Volksrepublik China brachen die meisten Staaten ihre diplomatischen Beziehungen mit Taiwan ab. Bis heute erkennen nur noch 19 Staaten Taiwan an, darunter der Vatikan, Haiti und Burkina Faso.
Angefacht durch das Youtube-Video des verprügelten Studenten beschäftigte der Protest auch die nationale Politik: Zwei Tage nach den Ereignissen erklärte der taiwanesische Ministerpräsident Lai Qingde während einer Parlamentssitzung: „Taiwan ist bereits ein souveräner und unabhängiger Staat, sein Name lautet Republik China.“ Dem widersprach einen Tag später der Sprecher des Büros für Taiwan-Angelegenheiten der Volksrepublik China, Ma Xiaoguang: „Taiwan ist ein unzertrennlicher Teil des Territoriums von China: Taiwan war niemals ein Staat und wird auch niemals ein Staat werden.“
Laut einer Umfrage der taiwanesischen Nationaluniversität für Politikwissenschaften lehnen mehr als 70 Prozent der Taiwanesen eine Vereinigung mit der Volksrepublik China ab. Im Falle einer Unabhängigkeitserklärung Taiwans sieht ein Anti-Sezessionsgesetz der Volksrepublik jedoch vor, militärische Maßnahmen zu ergreifen. Nach derzeitigen Schätzungen befindet sich Taiwan in unmittelbarer Reichweite von über 1500 ballistischen Raketen und Marschflugkörpern des chinesischen Militärs. Angesichts dieser Bedrohung sprechen sich über 80 Prozent der befragten Taiwanesen für die Erhaltung eines friedlichen und stabilen Status quo mit China aus.
Nur noch 19 Staaten erkennen Taiwan an
Eine friedliche Wiedervereinigung erscheint derzeit unwahrscheinlich, genau wie eine Invasion Taiwans durch die Volksrepublik. Solange der Status quo in Ostasien gewahrt bleibt, dürfte die taiwanesische Selbstbestimmung nicht unmittelbar bedroht sein. Unter dem „Taiwan Relations Act“ von 1979 beliefern die USA Taiwan nicht nur mit Rüstungsgütern, sondern garantieren auch die Unversehrtheit der Insel. Mit einer Flotte von elf atombetriebenen Flugzeugträgern verfügen die USA über die unangefochtene Herrschaft über die Weltmeere und die Fähigkeit, eine Invasion Taiwans im Keim zu ersticken.
In einer Zeit globaler Krisen könnte Taiwans Zukunft eine Wende nehmen: Im Zweiten Weltkrieg konnte Japan tief ins Machtvakuum eindringen, das die geschwächten europäischen Kolonialmächte in Ostasien und Südostasien zurückgelassen hatten. Ebenso würde China von einer Bindung der USA in einem globalen Krieg – etwa im Nahen und Mittleren Osten – profitieren.
Von Niklas Gerberding