Auch Taiwan brachte dieses Jahr eine Revolution für die LGBTQ-Gemeinschaft. Gleichgeschlechtliche Paare dürfen jetzt heiraten – oder?
Die Pride-Parade, die jeden Oktober in Taipeh stattfindet, ist die größte in ganz Asien. Ein Erfolg für Taiwan, eine traurige Realität für viele Besucher aus den Nachbarländern: Viele können, aus Angst vor massiver Diskriminierung oder sogar strafrechtlicher Verfolgung, ihre Identität nur während Stippvisiten im liberaleren Taiwan zeigen. Dieses Jahr gab es für die LGBTQ-Gemeinde in Taiwan einen besonderen Grund zum Feiern, da das Oberste Gericht im Mai beschlossen hatte, dass das Recht zu heiraten für alle Menschen gelte, nicht nur für Heterosexuelle.
Eingereicht hat die Petition LGBTQ-Aktivist Chi Chia-wei, der seit fast dreißig Jahren versucht, die Beziehung zu seinem Partner rechtlich anerkennen zu lassen. Unterstützt wird er dabei durch eine weitere Petition von der Stadtverwaltung Taipehs. Diese wünscht sich endlich ein Ende der Uneinigkeiten darüber, ob gleichgeschlechtliche Paare getraut werden dürfen, obwohl sich das Zivilgesetzbuch auf „Mann und Frau“ bezieht. Dem Urteil des Obersten Gerichtshofs zufolge ist nun klar: Diese Einschränkung verletzt das Recht auf Freiheit und Gleichberechtigung.
Eine Hochzeitsfeier zu planen, wäre allerdings noch verfrüht. Zwei Jahre hat das taiwanesische Parlament noch Zeit, Gesetze zu verabschieden, die im Detail festlegen, welche Rechte gleichgeschlechtliche Paare durch eine Hochzeit erhalten. Vorschläge dafür gab es schon Jahre vor dem Gerichtsprozess, durchgesetzt wurde bisher jedoch noch keiner.
Deng Zhu-yuan ist eine bisexuelle Masterstudentin aus Taipeh. Sie ist Mitglied der taiwanesischen NGO Marriage Equality Coalition, für die sie letztes Jahr an dem Gesetzes-entwurf der Demokratischen Fortschrittspartei Taiwans mitarbeitete, als die Annahme von Chis Petition publik wurde. „Wir waren etwas überrumpelt, als wir erfahren haben, dass der Fall im Obersten Gericht verhandelt wird“, erinnert sie sich. „Geplant war von unserer Seite, das Gesetz im Parlament vorzustellen und es dann ganz unauffällig zu verabschieden.“
Möglichst wenig Aufmerksamkeit auf die eigene politische Agenda zu ziehen, klingt unlogisch. Aber 2013 scheiterte eine Gesetzesänderung für die gleichgeschlechtliche Ehe im Parlament, nachdem homophobe Gruppierungen verschiedene Videos über AIDS verbreitet hatten. Laut den Videos würde die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen, neben einem moralischen Verfall, auch eine AIDS-Epidemie nach sich ziehen. „Das ist natürlich Quatsch. Aber es hat unsere ganze Arbeit zunichtegemacht“, kommentiert Deng. „Wir hatten keine Ahnung, wie das Urteil ausgehen wird. Das Parlament wird direkt gewählt, da können wir Öffentlichkeitsarbeit machen. Aber das Oberste Gericht? Die meisten Leute wissen nicht mal, was die machen.“
Yu, ein Student an der National Taiwan University, der seit drei Jahren offen mit seiner Identität als schwuler Mann umgeht, reagierte auf das Urteil eher verwirrt als erfreut: „Ich habe oft mit meinen Freunden darüber gesprochen, aber wir dachten alle, dass das noch Jahre dauert“, erinnert er sich. „Als wir von der Entscheidung gehört haben, wussten wir gar nicht, was wir sagen sollen.“
Diese Reaktion liegt zum Teil darin begründet, dass der Umgang mit LGBTQ-Themen in Taiwan ein eher zurückhaltender ist: „Meine Eltern wissen beide, dass ich lesbisch bin. Mein Vater verdrängt es aber die meiste Zeit, weil er sehr konservativ ist“, erklärt Tingting, die als Barista arbeitet. „Wir haben ein System: Er fragt nicht danach und ich erzähle nichts darüber.“ Kommt ihre Freundin zu Besuch, tun sie so, als wären sie nur befreundet. Dieser Umgang mit lesbischen und schwulen Beziehungen mache es schwer zu wissen, wie der Großteil der taiwanesischen Gesellschaft zu LGBTQ-Ehen steht. In einer Umfrage des Justizministeriums aus dem Jahr 2015 befürworteten 71 Prozent der Bevölkerung eine solche Entwicklung, in einer Umfrage der Taiwan Public Opinion Foundation von 2016 hingegen befürworteten sie nur 46 Prozent.
Unterstützer und Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe finden sich fast auf der ganzen Breite des politischen Spektrums. „Klar hat es auch etwas damit zu tun, wie konservativ die Leute sind“, erklärt der Student Yu. Aber noch viel wichtiger sei wie alt die Leute sind. „Junge Leute haben nichts gegen Schwule oder Lesben. Sind die Menschen jedoch zwischen vierzig und sechzig, sind sie meist sehr homophob. Ganz alte Menschen, vor allem Frauen, sind komischerweise wieder viel offener dafür.“ Yu sieht hier einen Zusammenhang mit der Demokratisierung in den 1990er Jahren. Nachdem sich verschiedene Parteien und ein besseres Verständnis für demokratische Prozesse in Taiwan etabliert hatten, setze sich die Gesellschaft mehr mit den Bedürfnissen von Minderheiten auseinander. Seit der Jahrtausendwende wird auch an taiwanesischen Schulen über LGBTQ-Themen informiert. So finden homophobe Hetzvideos bei jungen Menschen weniger Resonanz.
Die Entscheidung genießt die politische Aktivistin Deng noch mit Vorsicht: „Da ist noch ein Haufen Arbeit vor uns. Viele im Parlament posten zwar unterstützende Statements in Regenbogenfarben, aber sie tun nichts, um endlich ein Gesetz zu verabschieden“, ärgert sie sich. Dabei findet Deng trotz aller Überraschung über das schnelle Gerichtsurteil: „Eigentlich ist die gleichgeschlechtliche Ehe in Taiwan doch längst überfällig.“
Von Viola Heeger