Sollte man Jogginghosen in der Bib tragen?
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Pro
„Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“, verkündete dereinst Karl Lagerfeld. Wieso allerdings ein blasierter Greis, der aussieht, als hätte man ihn an seinem weißen Zopf aus dem nächsten Sarg gezogen, die Leben seiner Mitmenschen aufgrund ihrer Kleidungswahl verurteilen darf, scheinen viele nicht zu hinterfragen.
Dabei missversteht dieser Möchtegernmodezar sein eigenes Handwerk ganz grundlegend. Mode ist stets dynamisch und niemals statisch. Am besten lässt sich das am Beispiel der allseits beliebten Jeans illustrieren, die einen mustergültigen Wandel von der Arbeitskluft hin zur stilvollen Alltagshose vollzogen hat. Diktate, die eine solche Dynamik zu unterbinden versuchen, sind in der Modewelt also gänzlich fehl am Platz. Es ist daher gut möglich, dass der als stillos beschimpfte Jogginghosenträger von heute der mutige Vorreiter der Mode von morgen ist.
Aber auch heute gibt es zweifellos schon mehr als genug Situationen, in denen die Jogginghose nicht nur eine legitime, sondern sogar die zu empfehlende Wahl in der Frage nach der Bekleidung darstellt. Gerade der Gang in die Bib, der wohl in unterschiedlicher Frequenz Bestandteil eines jeden studentischen Alltags ist, verlangt nahezu nach dieser stoffgewordenen Gemütlichkeit.
Eine Universitätsbibliothek sollte stets ein Refugium sein, das einzig und allein geistigen Dingen gewidmet ist, und in nichts lassen sich große Geistestaten effektiver vollbringen als in einer schlabbrigen Trainingshose. Man kann nur mit Bedauern daran denken, wie viele große Gedankengänge wohl schon in einer viel zu eng sitzenden Röhrenjeans ihr klägliches Ende gefunden haben. Ein modisches Diktat hat in einer Universitätsbibliothek keinen Platz, die Jogginghose aber sehr wohl.
Von Matthias Luxenburger
Contra
Hosen werden gemeinhin sträflich unterschätzt. Der Laie mag dem Irrtum aufsitzen, die Beinbekleidung diene allein der Verhüllung nackten Fleisches, wobei selbst diese Einsicht angesichts der geschmacksverirrten Sekte der Kurzhosenträger nicht mehr konsensfähig zu sein scheint.
Noch weniger Konsens ist bedauerlicherweise das Verständnis für die soziale und zivilisatorische Schlüsselstellung des Beinkleids: Die Hose bildet im Kleinen ab, was der Soziologie-Klassiker Georg Simmel mit den verschiedenen sozialen Kreisen meinte, in denen wir uns tagtäglich bewegen.
Im Klartext: Der Turmspringer macht sich lächerlich, wenn er in Tweed-Jackett und Bundfaltenhose den dreieinhalbfachen Auerbachsalto ins Becken hechtet; genauso wie die Grabrednerin in Netzstrümpfen.
Auch der scheinbar banale Gang in die Bibliothek ist nichts anderes als der Eintritt in einen sozialen Kreis, der bestimmte Regeln mit sich bringt: nicht zuletzt die Auswahl der adäquaten Klamotte. Die mit Emblemen von Sportartikelherstellern versehenen Schlafanzughosen taugen vielleicht zum privat-verlotterten Müßiggang zwischen WG-Kühlschrank und Flatscreen-Glotze, ganz sicher aber nicht für den Auftritt auf öffentlichem Parkett.
Der Weg in den Lesesaal ist eben nicht nur die Verlagerung des Netflix-Konsums vor instagramtaugliche Bücherwände, um akademische Kraftanstrengungen vorzugaukeln, sondern die Teilnahme an einem komplexen sozialen Spiel. Wer zur Befriedigung seines hedonistischen Bedürfnisses nach Bequemlichkeit die Sackhose vor die eigene Haustür trägt, hat nicht nur einen fragwürdigen Modegeschmack und zweifelsfrei die Kontrolle über sein Leben verloren, sondern ist schlicht und ergreifend ein Spielverderber.
Von Tillmann Heise
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