Eine neue Verfassung, EU-Austritt, Ehe für alle – in vielen Ländern werden historische Entscheidungen per Referendum getroffen. Auch in Deutschland wollen fast alle Parteien bundesweite Volksentscheide einführen. Würde das unserer Demokratie gut tun?
Die Forderung nach bundesweiten Volksentscheiden ist weithin populär. Wer soll auch etwas gegen mehr Demokratie haben? Doch tatsächlich gibt es gute Argumente, die man vor einer Einführung sorgfältig diskutieren sollte. Als häufigstes Contra-Argument gilt gemeinhin die Vereinfachung komplexer Sachthemen auf Ja-Nein-Fragen sowie die Gefahr einer Emotionalisierung politischer Entscheidungsprozesse. Auch die Durchsetzung unpopulärer, aber notwendiger Entscheidungen, die Stabilität unseres politischen Systems, die niedrige Wahlbeteiligung in Ländern mit Volksentscheiden und die Gefahr, dass nur gutinformierte und gutsituierte Wähler zur Wahl gehen, sind Kritikpunkte. Äußerst bedenklich finde ich zudem den Fall eines Volksentscheides in den Niederlanden über ein EU-Abkommen. Dort wurde nicht über das Sachthema diskutiert, sondern die Abstimmung für eine Abrechnung mit der EU gekapert. Dieser Gefahren müssen wir uns bewusst sein, wenn wir über eine Ausweitung der direkten Demokratie diskutieren.
These 1: Volksentscheide wahren die Interessen der Bevölkerung gegenüber den Abgeordneten.
Laut Grundgesetz ist Deutschland eine repräsentative Demokratie, in der Abgeordnete vom Volk gewählt werden und seinen Willen vertreten.
Eine Einführung bundesweiter Volksentscheide würde die Abgeordneten von ihrer Verantwortung für die entsprechenden Beschlüsse entbinden. Wen aber kann man zur Rechenschaft ziehen, wenn das Volk entschieden hat? Es bestünde außerdem die Frage, wer sich überhaupt an Volksentscheiden beteiligen würde. Bei zahlreichen Volksentscheiden in der Schweiz und auch auf Länderebene in Deutschland herrscht eine extrem niedrige Wahlbeteiligung. Dies sind nur zwei der vielen Fragen, die mich daran zweifeln lassen, ob Volksentscheide ein sinnvolles Instrument der Wahrung der Interessen sind.
These 2: Volksentscheide sind anfällig für Lobbyismus.
Bei einer politischen Entscheidung treffen eine Vielzahl widerstreitender Positionen und Interessen aufeinander. Für mich als Abgeordneten ist es wichtig, mich umfassend zu informieren, ohne mich von einer Seite vereinnahmen zu lassen. Selbstverständlich bergen Volksentscheide die Gefahr, dass finanziell potente Unterstützer einer Position im Rahmen einer großen Kampagne für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten werben und kleinere Akteure mit ihrer Position weniger Aufmerksamkeit erlangen könnten. Wenn dann Lobbyismus und Populismus zusammenkommen und verkürzte Argumente zur Durchsetzung der eigenen Interessen mit hohem finanziellem Aufwand in den Diskurs eingebracht werden, ist dies aus meiner Sicht eine gefährliche Mischung.
These 3: Volksentscheide verhindern Kompromisse.
Politik ist nie schwarz oder weiß. Jede bundespolitische Entscheidung betrifft eine große Zahl ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure – von Privatpersonen über NGOs, kleine und mittelständische Betriebe bis hin zu Großkonzernen. In jedem Gesetzgebungsverfahren und bei jeder Entscheidung gibt es deshalb eine große Bandbreite an Interessen und Meinungen zu berücksichtigen.
Eine Vereinfachung komplexer Themen auf Ja-Nein-Fragen im Rahmen eines bundesweiten Volksentscheides sorgt nicht nur für eine stärkere Polarisierung und eine höhere Anfälligkeit für Populismus, sondern nimmt auch die Möglichkeit, „Ja/Nein, aber…“ zu sagen und differenzierte Entscheidungen zu ermöglichen. Damit erschweren es Volksentscheide, Kompromisse zwischen widerstreitenden Interessen zu finden.
Von Karl A. Lamers