Jan Assmann sucht nach dem Ursprung religiöser Gewalt. Der Kulturwissenschaftler erklärt im Interview, warum wir das Alte Testament brauchen, um islamistischen Terror zu verstehen.
Jan Assmann ist Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler. Er lehrte als Professor am Institut für Ägyptologie in Heidelberg und ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen. Gemeinsam mit seiner Frau Aleida Assmann entwickelte er die Theorie des kulturellen Gedächtnisses. Für ihre Forschung in diesem Gebiet erhielten beide im letzten Jahr den mit 750 000 Franken dotierten Balzan-Preis. In seinem neuen Buch „Totale Religion“ setzt er sich mit dem Ursprung religiöser Gewalt auseinander. Bei der Vorstellung seines Buches im Deutsch-Amerikanischen-Institut in Heidelberg war der Saal bis auf den letzten Platz belegt.
Angesichts der aktuellen Nachrichten von islamistischem Terror und Gewalt wird immer wieder die Frage nach dem Zusammenhang gerade zwischen dem Islam und Gewalt gestellt. Ist religiös motivierte Gewalt also ein rein islamisches Problem?
Nein, auf keinen Fall. Ich gehe in meinem neuen Buch zu den Wurzeln religiös motivierter Gewalt zurück und finde sie in einer bestimmten Tradition im Alten Testament. Diese Tradition beginnt bei den alten Propheten und wird im Folgenden im Deuteronomium massiv greifbar. Ich nenne diese Tradition einen radikalen Puritanismus, also die reine Lehre oder den reinen Kult. Dieser radikale Puritanismus kulminiert in einer Säuberungsaktion, der sogenannten josianischen Kultreform. Sie soll laut dem zweiten Buch der Könige gegen Ende des 7. Jahrhunderts stattgefunden haben. König Josia waren die zahlreichen kleinen Heiligtümer ein Dorn im Auge. Er ließ sie zerstören und als einzigen legitimen Kultort den Tempel in Jerusalem zu. So erzählen es die Texte. Ob das historisch ist oder nicht, kann man hinterfragen, auf jeden Fall ist die Geschichte ziemlich wirkungsmächtig. Nach dieser Kultreform bricht dann das gesellschaftliche System im alten Israel zusammen.
Mit dem babylonischen Exil?
Genau. Mit diesem Zusammenbruch hatten sich die Vorhersagen der Puritaner bewahrheitet, die für die Abweichung vom reinen Jahwe-Kult eine harte Strafe Gottes prophezeit hatten. Die Gemeinde arbeitet im Exil die ganze Tradition puritanisch auf, als wichtigstes Kernstück eben die Thora, also das Gesetz. Damit kehren sie nun zurück nach Jerusalem und der Tempel wird wieder aufgebaut. An dieser Stelle treten wir meiner Meinung nach wirklich in den Raum der Geschichte ein, das steht zwar auch in der Bibel, aber die Maßnahmen der Propheten Esra und Jehemia sind keine Fiktion. Bei der Rückkehr ins zerstörte Jerusalem setzen sie die reine Lehre mit aller Strenge durch. Das ist ziemlich brutal: Die Mischehen werden geschieden, Kinder werden verstoßen. An dieser Stelle schlagen die Worte, die in der Thora stehen, zum ersten Mal in Taten um. Und das zweite Mal, dass sie in Taten umschlagen, ist in den Makkabäerbüchern.
Also bei dem innerjüdischen Bürgerkrieg, der dort beschrieben wird?
Genau. Und sowohl die Scheidung der Mischehen als auch der innerjüdische Bürgerkrieg steht im Zeichen eines radikalen Puritanismus. Da sehe ich den Anfang einer Tradition, die heute kulminiert und zwar nicht im Judentum, sondern in der Tat im Islam und zwar im Wahabismus in Saudi-Arabien und in der Shia im Iran. Nun sind die meisten Terrororganisationen inklusive IS sunnitisch und stehen im Zeichen eines solchen Puritanismus. Die Frage ist, wie kommt es zu dieser Radikalisierung. Da benutze ich die Theorie von Carl Schmitt über das Politische und seine Konzeption des Ernstfalls. Nach Schmitt gibt es im Ernstfall nur noch Freund und Feind und alle anderen Differenzierungen verschwinden. Das Politische übernimmt die Kontrolle über die Kultur.
Das ist nun eine politikwissenschaftliche Theorie. Wie passt das zur Religion?
Das, was Schmitt den Ernstfall nennt, ist der Krieg. Ich habe mich gefragt, was das in der Religion ist und komme auf die Antwort: Das Weltgericht. Weltgericht ist zunächst mal eine biblische Vorstellung. Weltende kennen die anderen Religionen zwar auch, aber die Verbindung von Weltende und Weltgericht ist etwas ganz Spezielles. Das kommt zum ersten Mal im Buch Daniel auf. Ich halte es für alles andere als einen Zufall, dass das Buch Daniel gleichzeitig entsteht mit dem Ausbruch der Makkabäerkriege. Da sieht man, wie diese puritanische Verschärfung immer wieder auf das Weltgericht zurückgreift. Besonders massiv geschieht das auch im Koran.
Sie sprachen gerade vom babylonischen Exil. Ist es nicht verständlich, dass man im Exil versucht, sich aus einem Ohnmachtsgefühl heraus ein Narrativ zu entwickeln, das erklärt, wie es soweit kommen konnte?
Die Entwicklung dieser Idee geschieht in mehreren Stufen. Zunächst wird der nördliche Teil des alten Israel von den Assyrern, einem mächtigen Großreich, erobert und kurz darauf auch das Südreich. Die Israeliten werden daraufhin nach Babylon ins Exil verschleppt. In dieser Zeit des Umbruchs wird eine neue Religion im Zeichen einer starken Treue zu Gott entwickelt. Mit dieser Vorstellung gehen die Israeliten ins Exil und hoffen, die Katastrophe damit zu überwinden, dass sie dieses Geschehen als Strafe Gottes deuten. Immer noch besser als zu sagen, Gott gibt es gar nicht, oder Gott hat sich von uns abgewendet. Strafe ist immer noch ein Akt der Zuwendung. Die Texte entstehen aber im Kern schon vor dem Exil.
Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wie im Koran gibt es aber auch Stellen, die von Liebe sprechen…
Das ist im Grunde die Hauptsache.
Die Jesusbotschaft wäre ja auch ohne Liebe kaum denkbar…
Auch in Jahwes Botschaft im Alten Testament ist ständig von Liebe die Rede. Das findet sich schon bei Prophet Hosea, der die Geschichte des Volkes Israel als Liebesgeschichte konstruiert. Diese Texte beschreiben die Liebe Gottes zu diesem auserwählten Volk und auf der anderen Seite auch die Bedeutung des Bundesbruchs als Ehebruch. Auch das Hohelied Salomonis, ein biblisches Liebesgedicht, beschreibt den Bundesschluss als einen Ehebund. Das ist genau die Semantik, an die sich das Christentum begeistert anschließt.
Ist Gewalt eine notwendige Konsequenz von monotheistischen Religionen, wenn wir neben der Liebe auch so viel Gewalt finden?
Da unterscheide ich ganz klar zwischen Implikation und Konsequenz. Die Sprache der Gewalt ist eine Implikation, die unter bestimmten Umständen gewalttätig wird.
Was hat das mit dem Monotheismus zu tun?
Ich unterscheide zwischen dem „Monotheismus der Treue“ und dem „Monotheismus der Wahrheit“. Die Gewalt hat vor allem mit dem „Monotheismus der Treue“ zu tun. Den gibt es aber auch im Hinduismus und es gibt ihn sogar im Buddhismus. Das sehen wir gerade in Myanmar bei den gewalttätigen Ausschreitungen gegen die Rohingya, einer muslimischen Minderheit. Der Buddhismus kennt auch unglaubliche Gewaltausbrüche, wie sie das Judentum nie gekannt hat.
Unter welchen historischen Bedingungen bricht die Gewalt denn aus?
Typischerweise bei Überlagerungen von Kolonialismus, Eroberung und Unterdrückung. Das fängt eben an mit der assyrischen Unterdrückung, und setzt sich fort im römischen Kolonialismus. Wenn man auf den Hinduismus blickt, gab es seit dem Mittelalter die schrittweise muslimische Eroberung. Der islamische Kolonialismus war eine starke Herausforderung. Dann kam der englische Kolonialismus. Da verschärft sich das nochmal sehr.
Jetzt waren wir in der sehr weit entfernten Vergangenheit, gehen wir in die Zukunft. Wie kann man dann religiöser Gewalt entgegentreten?
Das haben die Religionen immer versucht. Es gibt auch humanistische Ansätze in der Bibel, wie etwa die sogenannten noahidischen Gebote, die für alle Menschen gelten, oder auch die Regeln für die Diaspora, wie man in fremden Ländern auf friedliche Weise zusammenlebt. Immer wieder hat man versucht, viel an Konfliktpotenzial zu entschärfen, antipuritanische Humanität walten zu lassen. In der Richtung muss man weiter denken. Ich persönlich bin ja nun kein Theologe und ich predige nicht. Ich würde aber sagen: Nach wie vor haben wir starke humanistische und humanitäre Ziele, die wir verfolgen müssen, also die Menschenrechte. Es wäre meine Vorstellung, dass wir ein gemeinsames Ziel anstreben, eine Ordnung des Zusammenlebens über den Religionen und nicht aus den Religionen heraus. Religionen wird es immer im Plural geben, wir werden immer kontroverse Vorstellungen haben, aber es muss darüber hinaus eine zivile säkulare Form des Zusammenlebens geben.
Die dann gewaltfrei ist?
Ja. Die Menschenrechte müssen wirklich in Kraft gesetzt werden. Da ist seit 1948 vieles geschehen. Aber es gibt auch starke Rückschläge, zum Beispiel in China, aber auch in unseren eigenen Reihen mit den Populisten. Ein wichtiges Prinzip des Zusammenlebens, das schon in den noahidischen Geboten steht, ist die Unabhängigkeit des Rechts. Muss man sich mal vorstellen. Das ist schon eine sehr alte Idee und wird jetzt in Polen und Ungarn ausgehebelt.
Das Gespräch führte Esther Lehnardt
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Begriffserklärung
Josianische Kultreform: Religiöse Reform des Königs Josia im 7. Jahrhundert vor Christus. Er zerstörte zahlreiche Kultstätten im alten Israel und ließ als einzigen Ort für die Verehrung Jahwes den Tempel in Jerusalem zu. Damit setzte er den Monotheismus in Israel durch.
Makkabäerkriege: Aufstand der jüdsichen Makkabäer gegen die seleukidische Herrschaft. Wird allgemein als innerjüdischer Bürgerkrieg betrachtet.
Deuteronomium: Drittes Buch Mose
Wahabismus: Streng religiöse Richtung des Islam. Wahabiten vertreten eine konsequente Durchsetzung der Scharia.
Diaspora: Exil des jüdischen Volkes und seine Zerstreuung außerhalb des historischen Heimatlandes. Jüdisches Leben als Minderheit in Ländern mit mehrheitlich anders religiöser Bevölkerung. [/box]
Das Deuteronomium („Zweitgesetz“) ist das fünfte, nicht das dritte Buch Mose. Es fasst zum Abschluss der Tora die Geschichte vom Auszug aus Ägypten, Bundesschluss am Sinai bzw. Horeb und Wanderung durch die Wüste zum Gelobten Land noch einmal abschließend zusammen und bringt sie auf den Punkt.