Seit Einführung der Bologna-Reformen wird darüber gestritten, wie die Lehre an Hochschulen gestaltet werden soll und ob Praxisnähe zu Verwässerung führt. Sollten die Universitäten Studierende mehr auf den Arbeitsmarkt vorbereiten?
Wer der Ansicht ist, dass Universitäten Studierende mehr auf den Arbeitsmarkt vorbereiten sollten, der sollte diesen Gedanken ernst nehmen – und zu Ende denken. Denn wenn die Arbeitsmarktorientierung tatsächlich so wichtig ist, wäre es dann nicht angebracht, auch die Schulen so einzurichten, dass sie Vorschulen der Erwerbstätigkeit werden? Und wie steht es eigentlich um die Kindergärten? Wird dort nicht viel zu fahrlässig gespielt, anstatt Humankapital anzureichern? Kurzum: Wer den Arbeitsmarkt vor Augen hat, wenn er an Studienziele denkt, der sollte nicht erst im Studium darauf abzielen. Bleibt nur noch zu klären, ob sich der Arbeitsmarkt überhaupt als Bildungsziel eignet. Die Antwort lautet: Nein! Die Arbeitsmarktorientierung, die Bildung angeblich praxistauglich machen soll, führt gerade an der Praxis vorbei. Den guten alten Arbeitsmarkt, auf den man sich heute für morgen vorbereiten konnte, gibt es längst nicht mehr. Und wie der Arbeitsmarkt von morgen aussieht, das entscheiden bestenfalls Studierende, die sich gerade nicht auf den Arbeitsmarkt von gestern vorbereiten.
These 1: Hochschulen sollten sich mehr auf den Fachkräftebedarf der Wirtschaft konzentrieren.
Universitäten sind keine Aus- oder Weiterbildungseinrichtungen von Unternehmen. Im Gegenteil: Es handelt sich um Bildungseinrichtungen, von welchen sich die Gesellschaft verspricht, sich selbst besser zu verstehen. Dieses Versprechen können Universitäten nur dann einlösen, wenn sie sich weder von Parteien noch von Unternehmen vereinnahmen lassen – auch nicht von Problemen, welche diese Akteure den Universitäten aufdrängen wollen. Denn darin zeigt sich gerade die grundgesetzlich geschützte Freiheit von Forschung und Lehre: dass Universitäten die Probleme, welche sie behandeln, selbst suchen, finden und lösen müssen. Davon profitieren letztlich alle – weshalb sich die akademische Freiheit auch gegen alle kirchlichen, staatlichen und wirtschaftlichen Widerstände im Laufe der Jahrhunderte behauptet hat.
These 2: Universitäten sollten vor allem wissenschaftliche Skills vermitteln.
Universitäten sollten vor allem bilden, nicht bloß ausbilden. Und Bildung lässt sich nicht vermitteln, wie sich eine Wohnung vermitteln lässt, sondern sie ist eine existenzielle Praxis – eben jene Praxis, in welche die theoretische Beschäftigung an Universitäten bestenfalls einführt. Dass Universitäten dieser Tage häufig zu Wissensvermittlungsagenturen verkommen, die irgendwelche sterilen Kompetenzen in Form von Credit-Point-Investments verkaufen, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in akademischen Zusammenhängen eigentlich um etwas anderes geht: nämlich darum, Ideenvermögen, Urteilskraft und Gestaltungswillen zu entwickeln. Diese Fertigkeiten ragen über den wissenschaftlichen Betrieb hinaus – und lassen ihn plötzlich nicht mehr im Gegensatz zur angeblich ach so fernen Lebenswelt erscheinen.
These 3: Nach den Einschnitten der Bologna-Reform würde mehr Praxisorientierung das Studium noch stärker verwässern.
Verschulung und Verwässerung des Studiums gehen heutzutage oftmals Hand in Hand. Auf der einen Seite wird immer mehr akkreditiert, evaluiert, zertifiziert. Auf der anderen Seite schwindet der Mut zur steilen These, zum großen Gedanken, zum intellektuellen Abenteuer ebenso wie das Interesse an der real existierenden Wirklichkeit. Die Brotgelehrten des akademischen Elfenbeinturms lassen sich heute alles doppelt und dreifach bescheinigen – und werden ihrerseits zu Schein-Heiligen, die bloß noch häppchenweise prüfungsrelevantes Trockenbrot servieren. Für Studierende, die sich damit abspeisen lassen, bietet dies weder fachliche noch berufliche Perspektiven. Wer hingegen ein Bewusstsein dafür entwickelt, wie das eigene Studienfach die jetzige Berufswelt prägt und die kommende verändern könnte, der ist auf gutem Wege, der Wissenschaft neues Leben und dem Leben neue Perspektiven zu schenken.
Von Philip Kovce