Aufwändige Musikvideos wie „Apeshit“ von Beyoncé und Jay Z erhielten diesen Sommer enorme Aufmerksamkeit in den sozialen Medien. Wirklich neu sind ihre Ideen aber nicht
Im November 2018 ist das Musikvideo zu „Apeshit“ von The Carters (Beyoncé und Jay Z) keine Neuheit mehr. Der Hype hat sich seit dem Erscheinen des Clips am 16. Juni wieder beruhigt – dafür interessiert sich jetzt die Wissenschaft für das Thema. „Das Video ist ein irrsinniger Mischpott an Ideen, welche die Carters hier verarbeiten“, meint der Kunsthistoriker Henry Keazor, der seine Eindrücke in einem Vortrag im Heidelberger Kunstverein präsentierte. Der Redner vom Institut für Europäische Kunstgeschichte führte das Video vor, um seine Interpretation der Inszenierung und einen Vergleich mit dem Video zu „Mona Lisa Smile“ von will.i.am zu präsentieren.
Das Musikvideo nimmt umfassend auf ausgewählte Kunstwerke des Louvre Bezug und kommentiert sie durch Tanz und andere Darstellungen. Insbesondere die Beziehung der Carters und der Triumph über ihre persönlichen Probleme sowie eine allgemeine Dankbarkeit für den Erfolg im Musikgeschäft kommen zum Ausdruck. Spannend ist einerseits die Auswahl der Gemälde und Skulpturen, die für die Szenen getroffen wurde. Andererseits findet durch die Choreografien vor den einzelnen Werken und durch eingefügte Szenerien eine Bezugnahme zu zeitgenössischen Künstlern statt. Wenn Jay Z allein vor dem Floß der Medusa oder begleitet von Beyoncé vor der Großen Sphinx von Tanis posiert, dann eröffnet das den Diskurs über ethnische Herkunft und die große afrikanische Vergangenheit. Daneben tanzt Beyoncé in einem weiten weißen Gewand vor der Nike von Samothrake nach der Choreografie von Sidi Larbi Cherkaoui und zitiert so die Kunst der US-amerikanischen Tänzerin und Choreografin Martha Graham. Manche Szenen stellen die Alltagsrealität der amerikanischen Suburbs dar und bilden mit der endlosen Aufzählung von Statussymbolen, die sich Beyoncé und Jay Z leisten können, einen Akt des Black Empowerments. Ganz nebenbei: Der Louvre lässt sich den privaten Zugang für künstlerische Zwecke sehr teuer bezahlen.
Die mediale Reaktion auf „Ape-shit“ ist kein Einzelfall. Mit herausragenden Musikvideos haben in jüngerer Zeit insbesondere afroamerikanische Musiker Schlagzeilen geschrieben: Kendrick Lamar bezieht sich in „Humble“ auf religiöse Ikonografie, „This is America“ von Childish Gambino positioniert sich zur politischen Situation in den USA. Es scheint, als ob das Musikvideo eine Art Renaissance erfährt. Laut Keazor ist die Entwicklung aber nicht so einfach: „Dass aktuell so viele Künstler wie The Carters, Lamar oder Gambino Aufmerksamkeit bekommen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies keineswegs ein neueres Phänomen ist.“ Auch nach der entscheidenden Entwicklungsphase der Musikvideos in den Neunziger- und frühen Nullerjahren hätten immer wieder Künstler und Künstlerinnen wie Lady Gaga und Björk mit dem Format für Aufregung gesorgt.
Entgegen aller Konstanz hat sich insgesamt die Form, in der Musikvideos an gesellschaftlichen Debatten teilhaben, verändert. Der dreiminütige Clip hat MTV und Co. verlassen und eine neue Heimat im Internet und den sozialen Medien gefunden. „Die Kunstform ist nie verschwunden, sie ist diffundiert“, bestätigt Keazor. Das Video ist vielleicht mehr geworden, als die schlichte Bewerbung von Songs zur Förderung der Verkaufszahlen. Die Szene ist insgesamt geschrumpft, aber innovativer geworden und wendet sich immer wieder von gewohnten Produktionsstandards ab. So verbanden Florence + The Machine („How Big, How Blue, How Beautiful“) und Kanye West („My Beautiful Dark Twisted Fantasy“) einzelne Musikvideos zu einem zusammenhängenden Kurzfilm.
In der breiten Masse schwindet die Originalität jedoch merklich, wie Keazor kritisiert: „Verglichen mit dem kreativen Schub, den das Musikvideo in den 90er Jahren hatte, sind heute selbst die Videos mit den spektakulärsten Reaktionen formal gesehen sehr konventionell.“ Anstelle eigener neuer Entwicklungen finden etablierte Motive und Darstellungen Anwendung.
Es wird auf bereits existente und bedeutungsschwangere Vorlagen wie die Mona Lisa oder Religion und popkulturelle Referenzen zurückgegriffen. „Sie rekurrieren wohl nicht zufällig alle auf etwas, das ihnen erst Bedeutung gibt.“ Wird am Ende nur bereits Dagewesenes „wiedergekäut“? Das möchte Keazor so nicht stehen lassen: „Das Musikvideo greift natürlich auf den Bildvorrat der Kunstgeschichte zurück, zugleich wird es selbst zu einem Teil der Kunstgeschichte.“ Neuschöpfung und Reproduktion – schön anzusehen sind sie jedenfalls beide.
Von Bérénice Burdack