Harald Lesch kritisiert den Raubbau an der Natur und die Ressourcengier der digitalen Welt. Ein Gespräch über Politik, Umwelt und das Internet
Harald Lesch ist Professor für Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Lehrbeauftragter für Naturphilosophie an der Hochschule für Philosophie München. Darüber hinaus ist er als Wissenschaftsjournalist, Buchautor und Fernsehmoderator verschiedener Sendungen bekannt geworden, in denen er komplexe wissenschaftliche oder philosophische Sachverhalte näherbringt. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Geist Heidelberg“ sprach Lesch am 7. Dezember über das Thema „Die digitale Diktatur“. Ein ruprecht-Redakteur hat die Gelegenheit ergriffen, um mit ihm zu sprechen.
Herr Lesch, welche Parallelen sehen Sie zwischen der industriellen und der digitalen Revolution?
Vor der Industrialisierung gab es zwar rein mechanische Arbeitsverhältnisse, aber die Objektivierung der Menschen war noch nicht so stark. Der Zusammenhang zwischen Mensch und Maschine wurde bei der Industrialisierung zum ersten Mal ganz offensichtlich mit dem Ersetzen von menschlicher durch maschineller Arbeit, damit wurden auch unvorstellbare Geschwindigkeiten hervorgebracht.
Mit der Digitalisierung ist es ganz ähnlich: Wir hatten lange Zeit auch eine eher ruhige Entwicklung gehabt, Telefon, Radio und Fernsehen waren noch langsamer. Die Digitalisierung ist ein Beschleunigungsapparat, bei dem wir als maximale Geschwindigkeit nicht mehr die Schallgeschwindigkeit haben, sondern die Lichtgeschwindigkeit. Damit sind wir weit entfernt von unseren Erfahrungsräumen und das ist eins der schlimmsten Dinge, die wir tun können: Inkohärenz in unser Leben bringen, also nicht mehr wissen, womit wir es eigentlich zu tun haben.
Bei vielen industriellen Einrichtungen wissen wir ja auch nicht mehr, was da eigentlich passiert, weil auch das mit Manipulation von Material zu tun hat. Nehmen wir zum Beispiel Kunststoff: Der ist sehr praktisch, aber ethisch gesehen eine Katastrophe. Wir haben bald mehr Kunststoff als biologisches Material in den Meeren, weil Kunststoff von der Natur nicht abgebaut wird. Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass wir technisch zu mehr fähig sind, als wir ethisch bewältigen können. Und diese Diskrepanz treibt mich um, bei der Industrialisierung wie bei der Digitalisierung.
Wir hatten also bei beiden Revolutionen schwerwiegende Veränderungen, die dazu geführt haben, dass wir in einer Welt leben, die vorher unvorstellbar gewesen ist.
Nicht überall! Es gibt Gesellschaften, die haben ihr Tempo deutlich erhöht. Bei einigen Versprechen der Digitalisierung wie der Zeitersparnis frage ich mich: Was haben die denn früher gemacht? Die müssen ja geschlafen haben! Dem ist nicht so, denn die Digitalisierung hat zur Zeitkompression beigetragen: Wir können mehr in weniger Zeit tun.
Heißt das, dass die Vorteile der digitalen Revolution am Ende doch überwiegen?
Es gibt bei jedem Instrument zwei Seiten, man denke an medizinische und technische Entwicklungen – aber im menschlichen Umgang können diese digitalen Werkzeuge doch auch Waffen sein, da durch diese Kommunikationsmittel gefälschte Informationen verbreitet werden: Mich macht es extrem unruhig neben all den nützlichen Dingen der digitalen Welt, dass wichtige Entscheidungen in Demokratien von Bots beeinflusst werden können. Man hat keine Sicherheit mehr, welche Informationen seriös sind.
Zugleich glaube ich, dass die Digitalisierung in weiten Teilen daran Schuld ist, dass wir eine starke antieuropäische Stimmung in der Bevölkerung haben und maßgeblich daran beteiligt ist, Idioten in die Politik zu treiben, nur weil sie in der Lage sind, mit einer PR-Agentur Blödsinnigkeiten in die Welt zu treiben. Das ist für mich so relevant, dass hinter dieser Gefahr vieles Positive verschwindet.
Ich habe Angst davor, dass eines Tages hier in Deutschland eine Partei regiert, die in der Lage wäre mit diesen digitalen Waffen uns sozusagen komplett zu kontrollieren und zu manipulieren, ohne das in eine apokalyptische Szenerie hineintreiben zu wollen. Was in Polen, Russland und vor allem den USA geschieht, wäre ohne digitale Verfahren nicht gegangen. Das System der Demokratie geht vor der Digitalisierung in die Knie.
Im weltweit erfolgreichsten Modell, dem chinesischen Staatskapitalismus, haben wir eine durch und durch diktatorische Verwendung der Algorithmen zum Social Scoring der gesamten Bevölkerung. Das passt auch zusammen, da die Algorithmen eine geradlinige Möglichkeit zur Lösungsfindung ermöglichen und diese Regime eine geradlinige Weise der Meinungsdurchsetzung verwenden. Was bringen uns denn diese netten Kleinigkeiten der Digitalisierung im Vergleich zu der brutalen und realen Gefahr, in einem solch diktatorischen Überwachungsstaat wie China zu leben?
In Ihren Vorträgen zitieren Sie oft den Club of Rome, der durch seinen Report „The Limits to Growth“ 1972 bekannt geworden ist. Wie enkeltauglich ist die Digitalisierung, wenn Bitcoin so viel Strom verbraucht wie die dänische Volkswirtschaft in einem Jahr?
(lacht.) Das ist natürlich eine ganz heiße Frage. Schauen Sie mal nach, wie Lithium, welches für die Batterien in Elektroautos und Smartphones gebraucht werden, aus dem Boden geholt wird. Dieses Element holt man aus dem Boden, indem man es hochspült. In einem der trockensten Orte der Welt, in der Atacama-Wüste in Chile, werden jeden Tag 21 Millionen Liter Grundwasser verwendet, um Lithium hochzupumpen. Was glauben Sie, was mit dem Wasser dort passiert? Es verdunstet. Das ist weg. Für immer. Das ist für mich ein Ausdruck des maximalen globalen Wahnsinns: Damit wir kommunizieren und uns elektromobil fortbewegen können, beuten wir nicht nur Länder aus, sondern verschwenden einen der wertvollsten Stoffe der Welt, um unsere primitiven Triebe der Mobilität und Kommunikation zu befriedigen und reden uns dabei ein, wie toll es wäre, wenn wir nur noch mit Elektroautos fahren würden. Dieser Wahnsinn ruiniert euch eure Zukunft.
Und den Jungs vom Silicon Valley ist es völlig egal, woher die Rohstoffe kommen. Die fragen sich nicht, wie Cobalt oder Lithium abgebaut wird. Um euch wirklich noch eine Zukunft zu lassen, müssten wir jetzt anfangen, erneuerbare Energien auszubauen, um so schnell wie möglich die 100 Prozent-Marke zu erreichen. Dann können wir auch anfangen, über die Fortbewegung der Zukunft nachzudenken, anstatt uns Gedanken darüber zu machen, wofür wir das Internet noch verwenden können. Das Internet ist jetzt schon der Stromverbraucher Nummer Drei nach China und den USA. Wie will man die Energie dafür holen?
Die Digitalisierung ist eine reine Gelddruckmaschine, nichts sonst. Das sehen Sie auch daran, dass die Figuren im Silicon Valley völlig überfordert sind von der Verantwortung, die sie mittlerweile haben. Das Schlimme ist ja, dass die mit ihrem Geld nicht einmal was machen. Wo sind denn die Windräder von Facebook oder Apple? Nichts, die bauen nichts. Die verbrauchen nur Energie. Diese Unternehmen saugen euch eure Zukunft ab.
Mittlerweile wird aber auch mehr Digitalisierung an den Schulen und Universitäten gefordert. Sind unsere Universitäten jetzt schon zu digitalisiert und ökonomisiert durch Bologna?
Definitiv, unsere Universitäten sind viel zu digital, ökonomisch und zu schnell. Meine Zusammenfassung lautet immer: Ich konnte früher noch schlendern beim Studieren, ihr müsst marschieren! Wenn Universitäten Hochleistungscamps für die Entwicklung von gebildeten Persönlichkeiten sein sollen, die eines Tages auf diesem Kontinent etwas Kreatives und Originelles machen sollen, dann können wir Studierende nicht in ein Militärcamp einsperren, wo wir sie teilweise ohne Mittagspause von einem Modul zum anderen jagen. Zumal die biologischen Randbedingungen ohnehin so sind, dass ihre Lebenserwartung steigt: Ihr werdet ohnehin lange arbeiten müssen. Wieso sollten wir euer Leben derart beschleunigen? Es gibt keinen Grund dafür, außer den, dass jemand will, dass ihr viel Geld verdient. Die Überökonomisierung hat an den Universitäten nichts verloren und wenn wir wollen, dass Universitäten intellektuelle Landschaften sind, in denen Menschen über hochinteressante Fragen forschen, um dann als Persönlichkeiten aus der Universitäten herauszukommen – dann müssen wir die Freiheiten dafür stellen. Ansonsten bekommen wir nur Normmaterial.
Sie haben selbst mal gesagt: „Es wäre ein Albtraum, wenn wir Computer zu den Herren unserer Welt machen.“ Haben Sie denn die ernsthafte Sorge, dass die Digitalisierung das Denken und das Lernen von Schülern behindert?
Es grenzt auf jeden Fall die Freiheitsräume ein. Überlegen Sie: Wenn Sie irgendetwas suchen, dann machen Sie das in der Suchmaschine. Das ist eine konvergente Weise von Suchen. In anderen Zeiten hat man bei der Suche z. B. nach Büchern oft welche gefunden, die man eigentlich nicht gesucht hat, aber in der Nähe standen: das ist eine divergente Recherche, so werden Verknüpfungen hergestellt, welche man auf digitale Weise nicht findet. Dieses zufällige Verknüpfen von Begriffen ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit, die im Zusammenhang mit der Digitalisierung als eines unserer großen Vorteile hervorgehoben wird.
Für Verwaltungsabläufe in der Arbeitswelt werden künstliche Intelligenzen eingesetzt, die große Datenmengen durchspülen und anhand von Korrelationen Entscheidungen treffen. Wenn das langfristig so weitergeht, dann haben wir an den Universitäten große Probleme, weil die Computer Lösungen anbieten, bei denen wir nicht mehr nachverfolgen können, wie sie zustande gekommen sind. Aber für Erkenntnisse brauche ich Begründungen, und wenn ich kein Begründung habe, dann kann ich es nicht unterrichten. Die Unis würden zurückgedrängt werden zugunsten einer Schule, in der man nur noch normierte Abläufe lernt. Das ist nicht das, was wir wollen.
Wie könnte ein verantwortungsvoller Umgang aussehen? Und was können wir Studierende dafür tun?
Dafür müssen wir uns fragen, ob die Infrastruktur privat oder genossenschaftlich organisiert sein soll. Momentan ist das Netz in der Hand von Riesenunternehmen: Das hat nichts mehr mit Kapitalismus zu tun, da es auch keinen Wettbewerb mehr gibt. Wenn wir die Situation ernst nehmen wollen, dann müssen wir Europäer damit anfangen, das Netz zu regulieren. Wir können alles mögliche regulieren, den Strom- und Straßenverkehr. Warum können wir nicht das Netz regulieren? Das ist eine Entscheidung, die die Gesellschaft als Ganze treffen muss. Da wir Älteren aber weniger Erfahrung mit der digitalen Welt haben, wird das eure Aufgabe sein.
Das Gespräch führte Eduard Ebert.