Über 800 000 Menschen in Deutschland haben keine Wohnung – unter ihnen auch Akademiker. Unser Autor schildert diese nicht ganz so ferne Welt aus seiner sehr persönlichen Sichtweise
Juristen kenne ich eigentlich nur aus dem Fernsehen: Harvey Specter zum Beispiel, den Verhandlungsmeister aus Suits oder Breaking Bads Saul Goodman, der einen Bus voller Rentner davon überzeugen kann, ihr eigenes Pflegeheim zu verklagen. Beide sind pünktlich und gut organisiert. Für den Juristen, mit dem ich an einem kalten Januarmorgen verabredet bin, gilt das offenbar nicht.
Ich bin um elf Uhr morgens an der Kreuzung Kaiserstraße. Da liegt, gegenüber vom Arbeitsamt, der Heidelberger SKM. Das Kürzel steht für „Sozialdienst katholischer Männer“ – deren Karl-Klotz-Haus ist eine Obdachlosentagesstätte, der Jurist dort regelmäßiger Gast: Er arbeitet nämlich nicht mehr als Anwalt, sondern sitzt auf der Straße.
Wie er sind über 800 000 Menschen ohne Wohnung in Deutschland – Tendenz steigend. Obdachlosigkeit ist längst keine Randerscheinung mehr. Aber erst „im Winter fällt plötzlich vielen ein, dass es Obdachlose auf der Straße gibt“, sagt Sozialarbeiter Jürgen, ein bärtiger Bär, 1,75 Meter groß, gutmütig. Jürgen ist seit 20 Jahren dabei, fast jeden Tag in der Tagesstätte – er hat das Treffen mit dem Juristen organisiert.
Hier, im Klotz-Haus, können sich Bedürftige tagsüber sammeln: Im Erdgeschoss gibt es einen Küchenbereich mit Essensausgabe, davor stehen Tische und Stühle. Dort sitzt Jürgen dann und redet mit den Leuten. 1,50 Euro kostet ein Mittagessen – aber wer mal gar nichts bezahlen kann, den lässt man auch nicht verhungern. In einem Nebenraum kann man bei einer Mitarbeiterin die Wäsche waschen. Daneben sind dann noch Dusche, WC und ein Anbau, umfunktioniert zu einer Art größerem Kleiderschrank – Schuhe und Klamotten in verschiedenen Größen, aber keine Kaufhausauswahl, weil Spenden.
Leider ist der Jurist nicht gekommen. „Er hatte gestern Geburtstag“, meint einer. Und wenn es im weiteren Verlauf auch niemand wirklich zugeben will: „Geburtstag“ – das ist wohl allgemeiner Anlass, sich so richtig abzuschießen: Man geht in die Stadt und lässt sich volllaufen. Das jedenfalls entnehme ich dem Grinsen, mit dem viele hier auf den Geburtstags-Hinweis antworten. Mein Gesprächspartner hatte seinen Fünfzigsten.
Wenn er nicht bettelt, würde er verhungern
Manni, ein anderer Obdachloser, erklärt sich bereit, einzuspringen. „Alles, was ich Dir sage, kannste auch schreiben“, sagt er zu mir – und damit ist Manni im Prinzip schon gut beschrieben: ein kräftiger Kerl Mitte fünfzig, hilfsbereit, einer, der mit anpackt. Manni ist gelernter Schlosser – seine Arbeit machen mittlerweile größtenteils Maschinen. Mit seinem Wollpulli steht er da zwischen den Tischen im Klotz-Haus. Vor dem Interview hat er einen Brief vom Jobcenter in der Hand und schüttelt kurz den Kopf. Schon früher ist es ihm schwergefallen, Befehle zu befolgen, erzählt er dann. Stattdessen wollte er lieber ausbrechen, raus in die Welt, Freiheit. „Ich hätte in die Tourismusbranche gehen sollen“, scherzt er. Manni zieht durch die ganze Welt; immer, wenn Geld reinkommt, schmeißt er es zusammen für neue Reisen. Irgendwann landet er im Knast in Sri Lanka – das Geld war alle; ein Freund fälschte für ihn Kreditkarten. Manni wird dann recht bald zurück nach Deutschland abgeschoben.
Beziehung und Job sind mittlerweile lange weg – genauso wie seine Wohnung. Stattdessen bettelt er mit Kumpel Peter regelmäßig zwischen Galeria Kaufhof und Post in der Sofienstraße. Fast jeden Tag versuchen die beiden, so bis zu viereinhalb Stunden an ein bisschen Geld zu kommen, außerdem hilft Manni gelegentlich Ausladen beim Getränkehändler – vom Amt kriegt er nichts. Wenn Manni nicht bettelt, würde er verhungern.
Manni ist einer von denen, die tatsächlich auch im Freien schlafen – „Platte machen“ heißt das im Obdachlosenslang: Eine Unterlage, zum Beispiel ein Pappkarton, darauf der Schlafsack – vielmehr braucht eine Platte nicht, je nach Anspruch an Bequemlichkeit.
Früher haben Manni und Peter so unter der Montpellierbrücke geschlafen, aber da wurden sie mitten in der Nacht angegriffen. Irgendwelche Besoffenen haben Steine auf die Zwei geworfen – die Besoffenen waren zu siebt.
Im Moment schläft Manni in einer verlassenen Gartenlaube. Der Winter ist für ihn gar nicht mal das Schlimmste: „Wenn es regnet – Dir ist kalt und dann wirst Du auch noch nass; das ist scheiße.“ Manni kennt sowohl die Höchsttemperaturen im Sommer als auch Minus 20 Grad Eiszeit. „Du spürst dann irgendwann Dein Gesicht nicht mehr“, sagt er. „Alles zugefroren.“ Wie er es trotzdem schafft, einzuschlafen? „Irgendwann gewöhnt sich der Körper halt an alles.“
Menschen, mit denen keiner redet
Nach dem Gespräch mit Manni baut sich ein ausgemergelter Mann neben mir auf. Mit angstgeweiteten Augen starrt er mich an und beginnt zu dozieren: Irgendwas von der katholischen Kirche, Verschwörungstheorien, „eine Frau ist wie ein Pferd“ – er springt von einem Gedankengang zum anderen, ich kann ihm nicht folgen. Dabei kommt er mir unangenehm nah. Dreimal versuche ich, ihm eine Frage zu stellen, aber er bemerkt das gar nicht und redet einfach weiter. Ich höre mir also seinen Vortrag an, Spuckefetzen fliegen in mein Gesicht. Manni baut sich zwischen uns auf, will mich wohl beschützen. Dann versuche ich, mich durch langsames Rückwärtsgehen aus der Situation zu befreien. Nach einer Viertelstunde ist er weg.
Im Klotz-Haus sind einige Leute, mit denen ich nicht gesprochen habe – manche unter ihnen reagieren nicht auf ein Hallo und starren nur so in den Raum. Sie sitzen im hinteren Teil vom Erdgeschoss, entfernt von der Essensausgabe und Jürgen – und nach diesem Erlebnis traue ich mich nicht, einen anderen von ihnen anzusprechen. Vielleicht denken ja viele andere auch so und das ist der Grund für deren Apathie: Menschen, mit denen keiner redet, müssen mit sich selber reden.
Angst, dass jemand Aggressives kommt
Im Haus sitzt ein weiterer Akademiker, jemand, der genau wie das gemütliche Zusammensein vielleicht besser in ein anderes Setting passt; ein weiterer ehemaliger Jura-Student, und beobachtet das Treiben der Leute vor dem Fenster. Hier soll er Jan* heißen. Jan sieht ein bisschen aus wie die sympathische Version von SPD-Politiker Karl Lauterbach – nur mit wacheren Augen und einem sympathischen Lächeln.
Während seines Studiums wohnt Jan in der typischen Studenten-WG. Dort lernt er seine spätere Frau kennen. „Es hat nicht lange gedauert, dann war ich in sie verliebt.“ Nach dem Referendariat versucht er, als Jurist unterzukommen. Vielerorts wird er aber nicht mal zum Vorstellungsgespräch eingeladen – zu viele Bewerber, teilweise mehr als hundert auf eine Stelle, sagt er. Jan macht sich stattdessen selbstständig – und scheitert krachend mit seinem Ein-Mann-Betrieb. Dann bricht auch die Beziehung mit seiner Frau auseinander. Sie zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus – und sie ist Mieterin, also muss auch Jan raus.
Zunächst versucht Jan, etwas Eigenes zu finden – aber es gibt nichts in seiner Preisklasse. Von einem Bekannten leiht er sich darauf ein Auto und schläft darin. Das geht einige Wochen gut, aber vor der Tür steht der Winter: Jan braucht eine Unterkunft, hält‘s nicht mehr in der Kälte aus. Das Sozialamt steckt ihn ins Wichernheim, eine Notunterkunft für Obdachlose zwischen Bismarckplatz und Altstadt-Penny. Hier ist er im Zweitbettzimmer einquartiert, auf zwölf Quadratmetern, mit Tisch, zwei Stühlen und Schrank – und die beiden Betten liegen direkt hintereinander, nur ein Brett dazwischen. „Jederzeit konnte da ein Mitarbeiter reinkommen und jemanden ablegen, den die Polizei auf der Straße aufgegriffen hat“, erinnert sich Jan. Er hat Angst, dass irgendjemand Aggressives bei ihm reinkommt. Leben ist es nicht mehr, was er da hat – eher Existieren ohne Privatsphäre. „Das war auch die Zeit, wo es mir am schlechtesten ging. Da stand ich vor der Wahl: Weitermachen oder beende ich es.“ Das Ganze kostet ihn 33 Euro pro Nacht, sagt er. Das Geld kommt vom Sozialamt. Wenn er wieder auf die Beine kommt, muss er es zurückzahlen.
Vor Schicksalsschlägen ist niemand gefeit
Dass unter den Leuten hier frühere Akademiker sind, macht mir ein bisschen Angst. Ich dachte immer, obdachlos werden nur die, die sich nicht an Regeln halten können oder es einfach nicht in einer geordneten Umgebung aushalten. Ich spreche Jürgen darauf an. „In der Wohnungslosenszene“, erklärt er, „trifft man einen Querschnitt der Gesellschaft. Eben von Analphabeten bis hin zu Medizinern, Juristen“ – auch ehemalige Lehrer sind unter den Besuchern des Klotz-Hauses.
Und vermutlich hat nicht nur Jan Probleme, eine Wohnung zu finden: Für eine 30 Quadratmeterwohnung zahlte man in Heidelberg vor acht Jahren noch etwa elf Euro pro Quadratmeter, im letzten Jahr schon über 14 – und während nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung ein steigendes Einkommen hat, bauen Stadt und Staat kräftig ab am sozialen Wohnungsmarkt: Heute existieren nur noch zwei Drittel der 1,5 Millionen Sozialwohnungen von damals, nach der Wende gab es sogar mal doppelt so viele.
Verständnisvolles Nicken
An einem anderen Tag darf ich in der Sofienstraße vorbeikommen bei Manni und Peter. Ich muss noch Fotos machen und beide sind so nett, sich zur Verfügung zu stellen. Vorher war ich noch beim SKM. Der vermisste Jurist ist immer noch nicht aufgetaucht. Und auch in der Sofienstraße sehe ich nicht, wen ich erwartet hatte: Statt einem Zweiergespann sitzt da nur Mannis Kumpel Peter, ein weißbärtiger Mann in Allwetterjacke, freundlich lächelnd. „Manni kommt wohl heute nicht mehr“, sagt er. „Hat es gestern richtig krachen lassen. Morgen hat Manni Geburtstag.“
Am nächsten Morgen ist Manni dann aber doch da. Man merkt ihm die Strapazen an. Er sitzt auf einem Kissen und zupft sich ständig die Decke zurecht, immer wieder – es ist zu kalt.
Peter hingegen verbreitet gute Laune und grüßt die vorbeilaufenden Passanten. Immer wieder halten welche für ein Pläuschchen an – man kennt und schätzt sich. Einer der Plauschenden war früher selber obdachlos, andere sind Mittelschichtskinder wie ich, die während ihrer Pause vorbeischauen. Einer macht unentwegt Scherze, die Nächste erzählt von ihren Problemen mit den Kindern – als ich Manni das erste Mal gesehen habe, habe auch ich mich erstmal bei ihm über mein Leben beschwert: Statt Fliesen ist neben meinem Badezimmerwaschbecken eine weiße Wand.
Manni macht heute das Gleiche wie damals: Er nickt verständnisvoll. Auch Peter nickt mit. Und ich frage mich, ob das nicht ein gutes Bild ist für das, was falsch läuft in der Gesellschaft: Es gibt Mittelständler und Milliardäre. Bill Gates wird wohl der erste Billionär der Welt – aber wenn die auf Obdachlose treffen, fangen Letztere plötzlich zu nicken an.
*Name geändert
Von Martin Herrmann