Schneechaos. Einen solchen Ausdruck kann sich nun wirklich nur der durchrationalisierte Geist des 21. Jahrhunderts ausdenken. Wenn das Max Weber wüsste. Der würde augenblicklich beginnen, über den Bergfriedhof zu spuken. Die Entzauberung der Welt, so weit fortgeschritten, dass nicht einmal glitzerndes Schneetreiben als letzte Bastion des Zaubers und des Irrationalen übrig geblieben ist!
Dabei hätte alles so schön sein können. Bedeckt von weißen Flocken käme die Welt zur Ruhe, würden Sehnsüchte neu erwachen und Herzen höher schlagen. Die Hände im luftig-weichen Neuschnee, den Blick in den tanzenden Eiskristallen – wer käme da schon auf die Idee, eine Mauer an die Grenze von Mexiko zu stellen oder die AfD in den Bundestag zu wählen? Genau. Niemand. Alle sähen wir verklärt Max Weber zu, wie er glücklich mit der Schneenymphe Chione in seinem Zaubergarten säße: Der vollendete Plan, die Welt versänke wieder im Schnee.
Zugegeben, etwas irrational ist das schon. Schnee ist bloß gefrorenes Wasser, und nicht mal weiß ist er wirklich. Jaja, wir wissen das. Und die Gestalt einer Lawine annehmen kann er auch. Rationalität ist das Schicksal unserer Zeit und durchdringt alle Bereiche der Gesellschaft. Alles kann berechnet, alles potentiell gewusst und nachgeschlagen werden. Kein Zauber ist mehr nötig, um uns die Welt zu erklären. Schnee ist kein Geschenk der Tochter des Nordwindes mehr, Schnee ist ein Ärgernis, das beseitigt werden muss. Aber kommen etwa die Geschwister Pevensie durch den Wandschrank nach Narnia und rufen aus: „Welch ein Schneechaos! Lasst uns beim SWR die witterungsbedingte Behinderung einer Bundesstraße melden und dann auf Tauwetter warten, bevor wir das Königreich retten!“ Wohl eher nicht.
Unser durchgetakteter moderner Alltag erinnert uns bereits jeden Tag an die unaufhaltbare Entzauberung der Welt. Sind wir tatsächlich bereit, ihr auch noch den Schnee zu überlassen? Lasst uns zu Max und Chione in den Zaubergarten gehen, lasst uns einen Schneetanz tanzen und Chione in Hoffnung auf noch mehr Schnee etwas opfern. Aber was opfert man einer Schneenymphe? Rationalität fürs Erste. Und die Streusalzanlage.
Von Valerie Gleisner