Über Sehnsucht, Lack und lange Röcke
Die Generation der zwischen 1980 und 2000 Geborenen wird oft als die Generation der „Digital Natives“ bezeichnet. Das mag unser lebensbestimmendes Verhältnis zu internetfähigen Geräten akkurat beschreiben, lässt jedoch das Wesentliche ungesagt: Wir träumen von einer heilen, analogen Welt. Wir suchen den Charme und die diffuse Beruhigung des 20. Jahrhunderts, jedoch nicht auf Flohmärkten, sondern mit Urban Outfitters oder Küchengeräten von smeg. Hier also der Vorschlag: Man nennt uns besser Generation Retro.
Was verrät dieses Etikett nun über uns? Beschränkt es sich wirklich auf die in Feuilletons hoch und runter besprochene Sehnsucht nach früher, nach Geborgenheit, nach Übersichtlichkeit? Fragen wir zuerst einmal: Warum eigentlich werden die Röcke der Frauen wieder länger anstatt kürzer? Die Antwort ist klar, wir wollen Retro, wir wollen Simone de Beauvoir, wir wollen Suffragetten und Downton Abbey: Eine Zeit, in der, zumindest gefühlt, der Mensch noch etwas zählte, die Natur intakt, der Buchhändler solvent und, nun ja, die Röcke eben lang waren. Die viel besungene Sehnsucht ist also da.
Ein Mitglied der Generation Retro hat jedoch auch das Bedürfnis, zu zeigen, dass es verstanden hat, dass unsere derzeitige Lebensweise tendenziell ungesunde Konsequenzen für Mensch und Umwelt nach sich zieht – nur wie? Nichts einfacher als das, denkt es sich und kauft erstmal eine auf alt getrimmte übergroße Pilotenjacke und ein Titangestell aus der neuen Armani-Brillenkollektion.
Unsere Antwort auf dieses Sehnsuchtsgefühl ist Symptom einer tieferliegenden Doppelmoral, die mit einem Klick auf „CO₂-Kompensation“ bei der Buchung von Urlaubsflügen beginnt und mit der Rechtfertigung des Kaufs neuer Gebrauchsgegenstände mit dem Verweis auf Vintage oder Retro aufhört. Würde Apple, um den sinkenden Verkauf von iPhones wieder anzukurbeln, das erste IPhone als „iPhone Vintage“ in einer Limited Edition neu auflegen – es wäre sofort ausverkauft, und vermutlich auch noch mit einem guten Gewissen auf Seiten der Käufer.
Besonders gut lässt sich dieses Phänomen auch an unserem Umgang mit Einrichtungsgegenständen beobachten. Warum sind wir eigentlich so wild darauf, uns alt aussehende Kommoden ins Wohnzimmer zu stellen und unsere Schreibtischplatten durch Türen oder Fenster zu ersetzen? Warum gibt es im Baumarkt inzwischen eine eigene Abteilung für Lacke und andere Hilfsmittel, um Möbel auf alt zu trimmen? Der ständige Konsum scheint uns auf eine gewisse Art langweilig geworden zu sein. Neu kaufen kann jeder. Wir sehnen uns krampfhaft nach etwas mit Geschichte, und so machen wir uns daran, den nach IKEA schreienden Schreibtisch mit Schleifpapier und Vintage-Lack zum Schweigen zu bringen. Ja, genau so muss der Sekretär ausgesehen haben, an dem unser Urgroßvater seine Feder in die Tusche tunkte.
So fügt sich das Bild zusammen: Der Fokus liegt auf Optik, und damit haben wir es in unserer retroverblendeten Suche nach Konsumverweigerung geschafft, einen komplett neuen Industriezweig zu erschaffen und am Leben zu halten.
Warum laufen wir nicht alle mal wieder mit Toga und Lorbeerkranz herum? Oder in einem netten barocken Ballkleid? Vielleicht kann das allein uns noch retten: Wir müssen den Gedanken Retro konsequent zu Ende denken.
von Valerie Gleisner