Freitagmorgen, fünf Uhr. Ich stehe an Gleis 2a, warte auf die S-Bahn nach Mannheim, um zur Arbeit zu fahren. Ich kuschle mich in meine Jacke ein und warte auf die selbstverständlich verspätete Bahn. Als der Zug da ist, steige ich ein und schmeiße erst mal meine Tasche auf einen Sitz, lasse mich fallen und döse auf der Fahrt zum Hauptbahnhof vor mich hin.
„Die Fahrkarte, bitte“, reißt mich aus meinen Träumen. Ich drücke dem Schaffner mein Semesterticket in die Hand, das er missbilligend beäugt: Es ist seit zwei Wochen abgelaufen.
Jens würde so etwas nicht passieren. Mit seiner Wertmarke kann er nämlich kostenlos im VRN-Gebiet fahren. Das hilft ihm im Moment jedoch wenig. Er kommt mit seinem Rollstuhl nicht von Gleis 10 weg, weil der Aufzug defekt ist – die Feuerwehr muss ihn vom Bahnhof holen. Da bringt auch ein Schwerbehindertenausweis für die Bahn nichts. Mich kostet das Ticket 60 Euro, der Einsatz der Feuerwehr kostet die Stadt satte 400.
„Ich kann nicht alles von meinen Assistenten verlangen“
Behindertengerechtigkeit ist ein Problem, das nicht bei kaputten Aufzügen in Bahnhöfen anfängt. Als Jens für eine Hausarbeit in Friedenspsychologie Bücher aus dem Bildungswissenschaftlichen Institut ausleihen will, endet sein Weg vor der Treppe. „Ich kann von meinen Assistenten nicht verlangen, gleich ganze Bücher zu kopieren.“ Zum Lernen geht der 28-Jährige auch nicht in die Unibib, sondern ins Mathematikon, das ist barrierefreier. Psychologische Literatur sucht Jens dort allerdings vergeblich.
Insgesamt beschäftigt Jens sieben Assistenten auf Minijob-Basis, die ihm dabei helfen, sein Studium zu bewältigen. Für sein Praktikum braucht er allerdings acht neue Assistenten – insgesamt 15, unter anderem wegen der langen Fahrzeiten zum Arbeitsplatz.
In der Freizeit hören die Hindernisse nicht auf. Unter der Woche im „Cave“ oder in der Unteren Straße zu versacken hört sich nach einem normalen Studierendenalltag an. Solche Abende kann Jens aber in die Tonne kloppen. „Die einzig wirklich zugänglichen Toiletten sind an der Triplex-Mensa, aber die schließen um 23 Uhr. Dann bleibe ich lieber zu Hause.“
Auch bei den Weiterbildungsangeboten gibt es Defizite. Sprachkurse am Zentralen Sprachlabor könne man vergessen, teilt Martin mit. „Die Kurse befinden sich im ersten Stock, einen Aufzug gibt es nicht.“ Der 28-Jährige studiert Musikwissenschaften – in der musikwissenschaftlichen Bibliothek war er allerdings bisher nur ein einziges Mal, weil sie nicht rollstuhlgerecht ist. „Das schränkt mich in der Ernsthaftigkeit meines Studiums ein.“
Darüber hinaus wundert sich Martin, dass die Studierendenwohnheime nicht barrierefreier gebaut werden. Trotz guter Betreuung und sehr hilfsbereiter Hausmeister sei es unmöglich, in die oberen Stockwerke zu gelangen. „Das ist ja nichts Neues, dass Rollstuhlfahrer öfter mal vor Treppen stehen.“ Das gilt auch für Neubauten im Neuenheimer Feld.
Dennoch sagt Martin, dass man beim Studierendenwerk optimal betreut werde. Zu Beginn seines Studiums konnte er bei der Studienberatung für Schwerbehinderte um Hilfe bitten und verschiedene Anträge stellen. Seinen Studienplänen, die durch den Denkmalschutz erschwert wurden, gab das ein wenig Aufwind. Beispielsweise gibt es Nachteilsausgleiche in Form von mehr Zeit, was das Schreiben von Hausarbeiten und Klausuren betrifft oder die generelle Zeitverlängerung der Regelstudienzeit, beispielsweise über ein Teilzeitstudium. Darüber hinaus stehe den Studierenden offen, technische Hilfsmittel wie z. B. Computer zu beantragen oder einen gesonderten Prüfungsraum unter Aufsicht zu nutzen.
„Die Behinderung ist Teil von mir“
Katharina lebt ein vollkommen normales Studierendenleben – abgesehen von ihren Implantaten. Seminare, Vorlesungen und nebenher arbeiten. Alltäglicher könnte sie als Studentin ihr Leben kaum verbringen. Nur vage lässt sich erahnen, dass sie taub ist. Sie gehört zu den etwa elf Prozent der Studierenden mit Behinderung.
Dienstag, elf Uhr. Vorlesung in Politik. Katharina setzt sich in die vorderste Reihe, packt Stift und Papier aus, die Folien bekam sie im Voraus zugeschickt. Vor ihr ein Gebärdendolmetscher, ohne den sie aufgeschmissen wäre, denn sie müsste in der Vorlesung Lippen lesen. Laut Hörtest hört sie drei Prozent ihrer Umgebungsgeräusche, auch die Implantate ersetzen ihren Gehörsinn nicht.
Dass die Professorin die Vorlesung nicht in Gebärdensprache hält, kann sie verstehen – den Gebärdendolmetscher bekommt sie von der Uni trotzdem weder gestellt, noch bezahlt. Dafür muss sie zum Sozialamt. „Die sind mir aber ein Dorn im Auge“, sagt sie. Denn einen Gebärdendolmetscher wolle das Sozialamt ihr nicht zahlen, da sie schon eine Ausbildung zur Erzieherin hinter sich hat. Sie könne ja dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, heißt es. „Das ist eine absolute Unverschämtheit!“
Im August 2015 erlebt Katharina in einer Stadt im Südwesten Kanadas ihre Behinderung zum ersten Mal als Teil von ihr selbst, nicht als Hindernis. Bei ihrer Ankunft an der Universität bekommt sie ein Formular, auf dem sie in ihrer Naivität alles ankreuzt, was sie braucht – und mit nur einer einzigen Unterschrift hat sie für jeden einzelnen Kurs einen Schriftdolmetscher bekommen, ohne einen einzigen Cent zu zahlen. „Die meinten zu mir: ‚Sie sind hier, um zu studieren und nicht, um sich um Verwaltungsakte zu kümmern.‘“
Deutschland muss viel nachholen
In Deutschland dagegen müsse sie vor jeder Vorlesung zum Professor gehen, sich vorstellen, die Situation erklären und darum bitten, wenigstens eine Fernmeldeanlage zu tragen. Mit dieser wüssten Professoren und Dolmetscher über ihre Gehörlosigkeit und Anwesenheit im Raum Bescheid. In Kanada sei das selbstverständlich gewesen und sie hätte die Anlage einfach so bekommen.
Kanada gehört zu der Gruppe von Ländern, die Deutschland im Punkt Inklusion weit voraus sind. Dabei hat Deutschland genauso wie Kanada die UN-Behindertenkonvention ratifiziert. Selbst die USA haben bei jeder Debatte einen Dolmetscher, dabei hat das Land den Vertrag nicht einmal ratifiziert. In den Niederlanden hat jede Serie, jede Nachrichtensendung Untertitel, in Neuseeland ist Gebärdensprache sogar eine Amtssprache.
Die Pädagogische Hochschule hat von diesem Vertrag nicht viel mitbekommen: keine Akustikdecken, keine Vorhänge, keine Teppiche. Für Hörgeschädigte ein Problem. Damit hört es aber nicht auf. „Wenn du im Rollstuhl sitzt, musst du in den Innenhof und dann in einen Aufzug, der meistens nicht funktioniert“, sagt Katharina. Der dritte Stock sei auch nicht barrierefrei, die Türen sind viel zu schmal. Aber ändern lasse sich nicht viel – wegen des Denkmalschutzes.
Neben dem Studium engagiert sich Katharina im Studierendenparlament der PH als Referentin für Studierende mit Behinderung. Zu ihr kommen Studierende, die sich von Dozenten nicht ernst genommen fühlen, oder Folien nicht im Voraus bekommen. Für Hörgeschädigte ist es nicht selbstverständlich, gleichzeitig lesen, schreiben und zuhören zu können.
Mittwochs fährt sie nach Stuttgart, dort leitet sie eine Beratungsstelle von und für Menschen mit Behinderungen. Durchblicken können die wenigstens in dem Riesendschungel an Gesetzen. „In meiner Laufbahn musste ich dafür kämpfen, nur annähernd gleichgestellt zu werden. Ich wünsche mir, dass andere es leichter haben.“
Die Uni hat viel verschlafen
Aber wer sich für ein Studium entscheidet, sollte sich auch durchbeißen, meint Felix Berschin. Der Jurist hat in Heidelberg promoviert und eine Unternehmensberatung für Nahverkehrsfragen gegründet. „Eine eingerichtete Uni kann man nicht erwarten, man braucht Eigeninitiative.“ Da Berschin eine Seheinschränkung hat, engagiert er sich an der Uni als Ansprechpartner für blinde und sehbehinderte Studierende. Auf seinen Impuls hin wurde in der Unibibliothek ein Fernsehlesegerät angeschafft, das er selbst für sein Studium gebraucht hatte.
Im Berufsleben gebe es auch keinen Rabatt, so Berschin. Zwar habe sich in den letzten Jahrzehnten viel geändert, es gebe aber noch viel Luft nach oben: „In vielen Ländern sind digitale Lagepläne mit Eingängen und Standorten von Büchern längst Standard. In Japan sind praktisch alle öffentlichen Gebäude dreidimensional erfasst. Dagegen ist der Lageplan der Unibib ein Witz.“ Anstatt die Digitalisierung für sich zu nutzen, gibt man „in Deutschland irrsinnig viel Geld für irgendwelche piepsenden Ampeln oder Blindenleitstreifen aus.“ Auch die Erfassung von Schriftwerken hinke stark hinterher.
Auch wenn Stadt und Uni ihr Bestes geben – an der Barrierefreiheit lässt sich nicht viel ändern. Dennoch kann man nicht behaupten, dass sie sich nicht darum bemühe. Der Umbau von Wohnungen und öffentlichen Gebäuden wird beispielsweise durch ein Förderprogramm unterstützt, das bis zu 50 Prozent der Kosten stellt. Zusätzlich gibt es eine App zur Routenplanung mit einer Übersicht über mögliche Hindernisse. Dies geschieht auf Basis der Datenbank „Heidelberg hürdenlos“, in der ein Großteil der öffentlichen Gebäude enthalten und nach mehreren Kriterien bewertet ist. Darüber hinaus ist auch die Verfasste Studierendenschaft mit Beratungsangeboten in Absprache mit der Universität gut aufgestellt. Daran, dass es für Studierende mit Behinderung immer noch keine Chancengleichheit gibt, ändert das nichts.
Von Eduard Ebert und Selina Demtröder
Erst einmal Danke Eduard Ebert und Selina Demtröder für euren aktuel biographisch angehauchten Artikel über die Einschränkung von „Schwerbehinderten.“.
„“ deswegen, weil ihr Artikel wie eig alle, einen großen Manko haben.
Sie beziehen sich nur auf sichtbare oder registrierbare gesundheitliche Einschränkungen und auf sichtbare Einschränkungen, z.b. Die sichtbare unüberwinbare Treppe für den Rollstuhlfahrer.
Wer hat den gesagt das man einschränkungen sehen kann?
Ich bin Medizinstudent in Heidelberg und bin im Besitz eines Schwerbehindertenausweis und eines europäischen medizinischen Notfallausweises.
Bis heute wurden bei mir 6 unheilbare Erkrankungen diagnostiziert, als Folgeerkrankung habe ich schon 4 chronische Erkrankungen bekommen, Tendenz steigend.
Bis heute habe ich 8 Phobien, 7 Zwänge, 195 den Tod besiegt und mit elf Jahren laufen neu lernen müssen.
Ich habe wöchentlich mind. 2 Arzt und/oder Therapietermine .
Trotz bekannten Diagnosen, Atteste, etc. War die Uni nicht bereit mir ein paar Pflicht Seminare / Praktikas zu erlassen.
UA. Deswegen oder wegen akuten gesundheitlichen problemen musste ich und muss ich weiterhin jedes Semester wiederholen.
Im Klartext: das Medizinstudium hab ich im WS 2016/17 angefangen, mein Pfysikum (nach dem 4. Semester ) plane im Frühjahr 2021.
Da ich gegen das leistungsorientierte Bildungssystem bin kommt mir zwar das entzerren entgegen, trotzdem ärgert es mich.
Ja ok ich hab einen Nachteilsausgleich , also mehr Zeit in Klausuren, etc. Aber was bringt mir das, wenn durch meine Einschränkung die Lernzeit terminiert wird, da hat Mann ja für den gleichen Stoff ja noch weniger Zeit. Ich muss auch teilweise Ärzte außerhalb Heidelbergs aufsuchen, da der Notwendige Facharzt entweder nicht in Heidelberg Existenz ist oder weil einfach kein arzt mich wegen meinen Vorerkrankungen behandeln will.
Bzgl Nachtleben, es tut mir für den Rollstuhlfahrer leid, aber ich bin u.a. Autist, die untere ist zu voll, zu laut, zu besoffen und hat zu dreckige Toilleten, allein einer der genannten Punkte würde schon ausreichen, dort nicht hin zu gehen. Ich war bis jetzt seit 2016 nur 2 Mal in der unteren und zwar bei zwei kneipentouren der
Zu all dem kommt noch dazu, dass ich noch während des Studium arbeiten muss, um med. Utensilien oder Therapien zahlen kann, die die Krankenkasse nicht übernimmt.
Ich gebe zu, dass ich zwar aus einer wohlhabenden Medizinerfamilie komme, allerdings ist meine Mutter schon seit 4 oder 5 Jahren schwer krank und mein Vater hat erst vor einem Monat eine unheilbare Erkrankung diagnostiziert bekommen. Das erhöht den druck, auch wenn meine Eltern mir sagen, dass ich mir trotzdem die Zeit nehmen soll.
Nicht sichtbare Einschränkungen fallen immer unter den Tisch.
Zuzüglich möchte ich bemerken, dass mich die Bemerkungen des Felix Berschin sehr beleidigen.
Die höchste Kunst der sozialen, ethischen, moralischen und dadurch empathischen Intelligenz ist die Akzeptanz und Tolleranz jeder Lebensart, jeder Lebensweise und aller Lebewesen. Dies inkludiert auch Integration, Solidarität und Zivilcourage, wer das nicht kann, sollte weder Medizin, noch Psychologie, noch Jura Studieren, da Mann dann das Ausmaß an Auswirkungen noch nicht einmal erahnen kann.
Als ob man das Geld und/oder die Kraft hätte die Kompendierung jeder einzelnen Einschränkung zahlen könnte.
Nur so bei mir wären es, wenn es die Krankenkasse nicht gebe, 8 Medizinische oder psychologische Einrichtungen, die ich unterschiedlich regelmäßig besuche.
Ich würde mich freuen einen Artikel über dieses, immer unter den Tisch fallende, Thema zu lesen.
Mit freundlichen Grüßen Simon Frankl