Im 19. Jahrhundert beeinflussten russische Studierende die Bildungspolitik der Universität Heidelberg – unter ihnen die erste Studentin an der Uni Heidelberg und spätere Professorin für Mathematik
Juni 1914. Mit der Urkatastrophe geht nicht nur das lange 19. Jahrhundert zu Ende, sondern auch das Studium vieler russischer Studierende an der Universität Heidelberg.
Dass Russen in Heidelberg studieren scheint eine Tradition zu haben: Bereits im 19. Jahrhundert war Heidelberg unter russischen Studenten beliebt, vorallem aufgrund der aus russischer Sicht niedrigen Mieten. So gründeten sie im Dezember 1862 die Pirogow’sche Lesehalle in einem Zimmer einer Konditorei in der Plöck, in der sich heute der Heidelberger Zuckerladen befindet. Das Jahr war kein Zufall: 1861 kam es zu Studentenunruhen an der Universität Sankt Petersburg, die in demselben Jahr zweimal vorübergehend geschlossen wurde. Den Studenten wurde die Versammlungsfreiheit entzogen, sie wurden unter polizeiliche Aufsicht gestellt, einige sogar von der Universität verwiesen.
Daher lasen russische Studenten in ihrer Bibliothek überwiegend antizaristische Literatur und die Presse aus ihrem Heimatland. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt im Allgemeinen als Epoche eines gesellschaftlichen Umbruchs in Russland. Unter den Studenten war die philosophische Strömung des russischen Nihilismus verbreitet, die Autoritäten wie zum Beispiel Staat und Kirche ablehnte und im Gegensatz dazu die Naturwissenschaften hochschätzte. Das Prestige der naturwissenschaftlichen Fakultäten in Heidelberg mit berühmten Professoren wie Bunsen, Helmholtz und Kirchhoff wirkte deshalb anziehend für Studenten aus dem Ausland.
Zu den russischen Nihilisten zählte sich auch Sofia Kowalewskaja. Trotz ihres offensichtlichen Talents für Mathematik durfte sie in Russland nicht einmal als Gasthörerin an Vorlesungen teilnehmen. Um ohne die Zustimmung ihres Vaters im Ausland studieren zu können, ging sie eine Scheinehe mit dem Paläontologen Wladimir Kowalewski ein. Dies schien eine verbreitete Gefälligkeit unter russischen Nihilisten zu sein.
Im Sommersemester 1869 begann sie ihr Studium der Mathematik an der Uni Heidelberg und wurde 1884 die weltweit erste Professorin in ihrem Fachbereich, die selbst Vorlesungen hielt – allerdings nicht mehr in Heidelberg, sondern in Stockholm. Dieser Präzedenzfall sorgte, zusammen mit weiteren Ausnahmefällen, bereits im Januar 1900 dafür, dass Frauen an der Universität Heidelberg zum Studium zugelassen wurden. Daraufhin hat das Großherzogtum Baden als erstes deutsches Land Frauen per Erlass das Studium erlaubt.
Sofia Kowalewskaja ist nicht das einzige berühmte Beispiel dafür, welchen Einfluss die russische Bildungspolitik auf junge Studierende hatte: besonders attraktiv wirkte die Universität auch auf jüdische Studenten aus Russland, die in ihrem Heimatland Quoten und strengen Zulassungsbeschränkungen unterworfen waren. Unter ihnen war Herrmann Schapira, geboren 1840 in Erswilken im heutigen Litauen. Nachdem er das Rabbinat im Alter von 24 Jahren abgeschlossen hatte, studierte er an der Berliner Gewerbeakademie und wurde zum Kaufmann. Mit 38 Jahren nahm Schapira nochmal ein Studium an der Universität Heidelberg auf, promovierte 1880 in Mathematik und habilitierte innerhalb von drei Jahren. Anschließend lehrte er zwanzig Jahre lang als Professor für Mathematik in Heidelberg.
Ein Jahr vor seinem Tod beeinflusste er mit einer Idee den Lauf der Geschichte Israels: ein Jahr vor seinem Tod nahm er am Ersten Zionistischen Weltkongress in Basel teil und schlug neben der Gründung einer hebräischen Universität einen jüdischen Nationalfond für den Landerwerb in Palästina vor. Der Fond soll jüdischen Menschen das Leben in Israel ermöglichen und besteht bis heute.
Von Eduard Ebert