Nerviges Übel oder Entwicklungschance: Wenn Eltern zu Besuch kommen
Pro:
Zugegeben, Gastgeber sein liegt nicht jedem. Aber wenn die eigenen Eltern zu Besuch kommen, stellt sich die Frage danach gar nicht. Sie kennen und lieben das eigene Kind, mit all den chaotischen Marotten. Da ist es nicht wichtig, ob die Bude auf Hochglanz poliert, oder der Lieblings-Familienkuchen perfekt nachgebacken ist. Mama und Papa sind einfach froh, ihr Kind besuchen zu dürfen. Ob das im eigenen Messizimmer sein muss, ist beeinflussbar. Denn man kann selbst beeinflussen, wo das Treffen stattfinden soll.
Eigentlich ist es doch ein Geschenk, das man nur zu nutzen wissen muss. Wenn der Abstecher zur Familie lediglich an Ostern und Weihnachten stattfindet, verschwinden die alten Beziehungsmuster von Spülmaschinenausräumen und Müllrausbringen natürlich nicht. Beziehungsstagnation ist aber nicht fördernd! Wenn Mama und Papa die Chance bekommen, sich von alten Gewohnheiten zu lösen, wird man vielleicht überrascht. Auf einmal führt man Gespräche über Freizeitgestaltung, Kommilitonen oder sogar Dates! Achtung! Dabei kann es passieren, dass man die ein oder andere Coolness an ihnen entdeckt – nichts für schwache Nerven! Die Offenheit zeigt den Eltern, dass Sorgen und alte Meckermuster unnötig sind.
Beziehung bedeutet Arbeit, ob Freunde oder Familie. Gerade die Verbindung zu den Eltern sollte man pflegen und entwickeln. Denn da kommt man nicht so einfach raus. Ich bin dankbar für meine Heimat, die ich gern besuche! Was spricht also dagegen, die Heimat zu sich einzuladen?
Und wenn man deshalb den Wohnungsputz doch in Angriff nimmt, ist das ein praktischer Nebeneffekt. Genau wie der natürliche Altruismus der Eltern, wenn es um das Bezahlen im „Güldenen Schaf“ geht.
Von Selina Demtröder
Contra:
Wenn sich die Familie zum Besuch ankündigt, hat mein Körper inzwischen eine natürliche Abwehrreaktion entwickelt. „Ouuuh, da ist ganz schlecht… da kann ich leider nur für ein paar Stunden.“ Was unfreundlich klingt, hat einen pragmatischen Ursprung. Denn Eltern sind wie Staubsaugervertreter: Sie kommen immer zu ungünstigen Zeitpunkten, stellen deine bisherigen Lebensweisen in Frage, sind irgendwie aus der Zeit gefallen und irrsinnig schwer loszuwerden.
Selbst die Unstrukturiertesten unter uns entwickeln irgendwann einen Workflow. Kaum hat der sich reibungslos eingestellt, kommt zielsicher der erste Anruf: „Wir kämen dann nächsten Donnerstag!“ Interessanterweise ist der eigene Arbeitsablauf zwar über den Haufen geworfen, der immergleiche Ablauf des Elternbesuchs bleibt jedoch unbeirrt.
Zusammen geht man ins Café, geht spazieren oder besichtigt eine Ruine, lässt sich teilweise wegen der „heruntergekommenen“ Kleidung irgendein Teil andrehen, das einem zu maximal 40 Prozent gefällt. Man will ihnen ja die Illusion nicht rauben, dass sie noch Entscheidungshoheit über das Leben ihres Kindes haben.
Ähnlich begrenzt wie die Aktivitäten sind auch die Gesprächsthemen. Der Studienort ist gespickt mit Tretminen für die elterliche Konversation. Verweist man im Vorbeigehen auf ein Café, in dem man sich sonst Texte durchliest, wird einem sofort ein laissez-fairer Lebensstil unterstellt. Geht man an einem Universitätsgebäude vorbei, wollen sie dich am liebsten zum Arzt schleifen: Verdacht auf Asbestvergiftung. Ob faule Haut oder Burnout-Gefährdung, in den Augen der Eltern bewegt man sich immer in den Extremen.
Fürs Protokoll: Ich mag meine Eltern. Nur würde ich gern über die Dosis entscheiden.
Von Svenja Schlicht
Svenja Schlicht machte im Sommer 2020 ihren Bachelor in Politikwissenschaft und Ethnologie an der Uni Heidelberg. Von Februar 2020 bis August 2020 leitete Sie das Feuilleton. Theater und Kultureinrichtungen waren aber bereits seit Oktober 2019 vor der ruprecht-Redakteurin nicht mehr sicher. Jetzt studiert sie an der Kölner Journalistenschule und freie Journalistin.