Anna
Kombinierte Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen und ängstlich-vermeidenden Elementen lautet Annas Diagnose. Die erste Komponente ist unter dem Begriff Borderline geläufiger und so nennt Anna ihre Probleme meistens auch. Die Krankheit begleitete sie in ihrer Jugend und während ihres Medizinstudiums. Heute steht die 40-Jährige im Berufsleben.
Anna erzählt von einer schwierigen Schulzeit: „Ich war dick, habe dann abgenommen und eine Essstörung entwickelt.“ Entsprechend wurden über Jahre nur Depression und Essstörung diagnostiziert, von ihrer Persönlichkeitsstörung erfuhr sie erst vor kurzem bei einem Klinikaufenthalt: „Es ist eine gute Frage, ob es psychiatrisches Unvermögen war, dass ich nicht früher diagnostiziert wurde.“
Eine Persönlichkeitsstörung stellt eine tiefgreifende Beeinträchtigung dar, die sich auf alle Lebensbereiche auswirken und starken Leidensdruck bedeuten kann. Beim Gespräch zeigt Anna auf dem Handy ein Bild: Ein Wirbel aus gelb, rot und schwarz. Sie malte es in der Kunsttherapie während ihres Aufenthaltes in der Psychiatrie. „Bei fast allem bist du zwei Extreme, die du verbinden musst. Das ist wahnsinnig anstrengend. Es ist immer ein Entweder-oder“, erklärt sie. „Da ist diese Angst, allein gelassen zu werden“, doch die Person, auf die sich die Angst bezieht, wird abwechselnd geliebt und gehasst. So beschreibt Anna die Borderline-Störung. Sie zitiert einen Buchtitel zum Thema: „Ich hasse dich – verlass mich nicht.“
Wie war es im Studium? „Diese wilden Studentenhorden kenne ich nicht. Da bin ich nie mitgegangen, ich hatte mein kleines Nerd-Grüppchen. Ich hatte halt nicht so viel Anschluss.“ Von den Problemen wussten Annas Kommilitonen nicht.
„Die Prüfungen und das Lernen waren bei weitem nicht dramatisch“, erzählt sie, aber gibt auch zu: „Die Vergangenheit ist vielleicht ein bisschen positiv eingefärbt. Natürlich bin ich mal durchgefallen, in einer Prüfung sogar zwei Mal.“ Ob ihr das Studium gutgetan hat, kann sie nicht genau sagen: „Du bist halt abgelenkt und musst dein Pensum abspulen.“ Ihr Medizinstudium hat sie jedenfalls abgeschlossen: Das ist eine Leistung, die auch psychisch kerngesunden Menschen bisweilen schwerfällt. Allerdings kann Anna hart zu sich selbst sein: „Ich sage mir: Stell dich nicht so an.“ Anderen gegenüber sieht sie das anders: „Ich finde es ein bisschen blöd, jemandem zu sagen, er solle sich Hilfe holen. Das ist nur Gerede. Es hilft nicht, zu sagen: ‚tue dies und das.‘ Man muss ein offenes Ohr für die Person haben.“
Ob Anna denkt, dass sie einmal glücklich wird? „Ich glaube nicht. Ich kann es mir nicht vorstellen.“
Silvia
Etwa 10 000 Menschen nehmen sich jährlich in Deutschland das Leben, teilt das statistische Bundesamt mit. Es hätte nicht viel gefehlt und Silvia hätte dazu gezählt: Mit 15 Jahren versuchte sie, sich umzubringen. „Das war mit einer der schlimmsten Momente in meinem Leben“, kommentiert sie. Inzwischen steht sie kurz vor ihrem Abschluss an der pädagogischen Hochschule in Heidelberg.
Gründe für ihren Suizidversuch waren psychische und körperliche Gewalt im Elternhaus. Die Idee zur Durchführung lieferte unwissentlich eine Lehrerin, als diese im Unterricht beschrieb, wie man sich am einfachsten umbringen könne, erinnert sich Silvia. „Es ist krass, dass damals an meiner Schule niemand diese Suizidalität bemerkt hat. Ich habe im Deutschunterricht Gedichte über den Tod vorgelesen, wochenlang nicht mehr mitgemacht und bin in Fächern abgefallen, in denen ich vorher richtig gut war. Es wurde überhaupt nicht ernstgenommen, da ist niemand auf mich zugekommen.“ Als zukünftige Lehrerin will Silvia es besser machen.
Wiederkehrende depressive Episoden begleiten Silvia immer noch. An der Uni sei sie damit aber auf Verständnis gestoßen. Fristverlängerungen seien zum Beispiel immer möglich gewesen.
Manchmal funktioniert Silvia zwar an der Uni, doch Wäsche zu machen oder Zähne zu putzen kostet zu viel Anstrengung. Dabei hat sie eigene Wege, mit der Depression umzugehen: „Memes sind großartig!“ Gemeint sind Depressions-spezifische Memes. Silvia: „Das wichtigste dabei ist, finde ich, diese ironische Distanz. Ich sehe etwas und denke, das passt perfekt und gleichzeitig muss ich erkennen, wie absurd es ist.“ Eine ehemalige Therapeutin „war da anderer Meinung, nämlich dass Memes eigentlich destruktiv wären und man sich damit in depressive und suizidale Gedanken reinreitet“, aber das sieht Silvia anders. „Man ist nicht allein mit diesen blöden, komischen, gestörten Gedanken, es geht ganz vielen Menschen so.“
Während des Studiums war Silvia zwei Mal in der Psychiatrie, aber „noch nie auf der Geschlossenen, obwohl ich jedes Mal wegen Suizidgedanken da war, sondern immer direkt in der Offenen.“ Eine offene Station können die Patienten nach Belieben verlassen. „Habt keine Angst davor, das kann euch helfen“, sagt sie über die stationäre Behandlung. Ein Klinikaufenthalt könne zwar keine Ursachen beseitigen, aber einen stabilisieren: „Ich lebe noch und vor den Aufenthalten war die Überlegung da, ob ich mich umbringe.“ Silvia reflektiert: „Jedes Lebewesen strebt danach, weiterzuleben und suizidgefährdete Menschen wollen eben dieses Leben nicht weiterleben. Das ist so absurd.“
Sabine Leduc
Kann eine psychisch kranke Person eine gute Psychologin sein? Sabine Leduc denkt das nicht. Sie muss es wissen: Die 51-Jährige hat Schizophrenie, studierte Psychologie und arbeitete eineinhalb Jahre als Psychologin. Dann ging ihr das Leid der Patienten zu nahe.
Sabine Leduc lacht oft und wirkt freundlich, wenn auch unsicher, als sie am Psychologischen Institut aus ihrer Autobiografie liest. „Ein lebenswertes Leben. Meine unvergesslichen Lehrjahre mit der Krankheit Schizophrenie“, heißt das Buch. Lebenswert fand sie ihr Leben nicht immer: Ängste, Depression und der Wunsch zu sterben begleiteten sie lange. Ein „dunkles, eiskaltes, leeres Loch“ nennt sie das.
Zum Krankheitsbild der Schizophrenie gehört oft die Wahrnehmung eingebildeter Stimmen. Das trifft auch auf Sabine Leduc zu. Darüber zu sprechen wühlt sie sichtlich auf. Später gesteht sie, in Lesungen weniger von den Stimmen berichten zu wollen. Hier, vor zukünftigen Psychologen, möchte sie mehr sagen. In ihrem Buch schreibt sie, wie ihr die Stimmen sagten, sie solle eine Frau töten, der sie soeben noch geholfen hatte. Erst im letzten Moment konnte sie sich davon abhalten, den Befehlen Folge zu leisten.
Die Stimmen höre sie heute immer noch, sagt sie, aber sie habe mehr Kontrolle über sie. Soweit zu kommen dauerte lange: Sabine Leduc war lange in Therapie, verbrachte ab 1988 fünf Jahre in der Psychiatrie. Zunächst als Psychose diagnostiziert, wurde die Schizophrenie erst später erkannt. Sabine Leduc habe durch viel Übung gelernt, wie sie ihre negativen Gedanken und Gefühle zu positiven umpolen könne.
„Warum denken wir so, wie wir denken?“, fragte sie sich. Um es herauszufinden studierte sie Psychologie. Im Studium lernte sie Disziplin, Mut und die Fähigkeit, „einfach weiterzumachen“. Sie sagt: „Das Rennen ist erst vorbei, wenn du über die Ziellinie bist.“
Zunächst hielt sie ihre Krankheit aus Angst vor Zurückweisung geheim. Nur ihr Mann und ihre Eltern wussten davon. Mit der Krankheit offen umzugehen sei schwierig gewesen, habe aber gut getan: „Ich habe Angst davor, öffentlich zu reden. Deswegen mache ich es.“ Durch ihre Offenheit fühle sie sich wie ein gesunder Mensch. Sie habe gelernt, sich selbst zu lieben, sagt sie. Und weiter: „Liebe gibt unserem Leben einen Sinn.“
Christian
Neues Studium, fremdes Land, die Familie im Ausland, 13 Flugstunden entfernt – als Christian sein Biotechnologiestudium in Darmstadt beginnt, ist das der Anfang einer Abwärtsspirale. Da er niemanden kennt, verliert er schnell jeden Halt. Sein Studium macht ihm keinen Spaß. Nichts bringt ihm mehr echte Freude. „Jeden Tag aufzustehen war eine Herausforderung“. Immer häufiger fragt er sich nach dem Sinn seines Lebens und findet keine Antwort.
Christian hat eine Depression. Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und innere Leere gehören zum Krankheitsbild dieser psychischen Krankheit. „Oft nehmen Leute das nicht ernst,“ berichtet Christian. „Sie sagen dann so Sachen wie: ‚Ich hatte auch mal Stress, das ist normal, das legt sich wieder.‘ Aber es gibt eben Stress und das, was ich damals fühlte.“ Eine Depression kann Jahre dauern und wird – sofern sie erkannt wird – mit Psychotherapie und Medikamenten behandelt. Der Student beschreibt das Gefühl „als ob man pausenlos etwas tragen würde“.
Bei Christian bleibt die psychische Störung lange unbehandelt. Seine Familie weiß nichts von seinen Problemen, ihm selbst fehlt die Kraft, sich Hilfe zu suchen. Seit er 16 Jahre alt ist, fügt er sich selbst Schnittwunden zu. In Darmstadt nimmt sein selbstverletzendes Verhalten immer weiter zu. Nach einem abgebrochenen Suizidversuch wird er in eine Psychiatrie eingewiesen und fasst mithilfe von Therapien einen Entschluss: „Ich dachte mir: ‚Gut, ich will doch leben. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, was ich machen will.‘“ Auch für sein Umfeld ist Christians Klinikaufenthalt hilfreich. Niemand stellt den Ernst der Situation in Frage – „Es war eine Art Weckruf“.
Nach sechs Wochen verlässt Christian die Klinik und bricht sein Studium ab. Auch aus Darmstadt zieht er weg und beginnt in Heidelberg ein Jurastudium. Seine Freunde und Verwandten gehen anfangs noch behutsam mit ihm um. Inzwischen ist er für sie aber wieder der Alte. Auf die Frage, wie er die Depression endgültig hinter sich gelassen hat, gesteht er jedoch: „Man ist nie komplett aus der Krankheit raus.“ Aber er habe in der Psychiatrie gelernt, wie er mit depressiven Episoden umgehen und sie unter Kontrolle behalten kann.
Heute geht der Jura-Student offen mit seiner Vergangenheit um. Er wünscht sich jedoch, dass die Gesellschaft für Depressionen sensibilisiert wird. Es gibt bei einer Depression keinen wahren Grund, deprimiert zu sein. Da hilft es nicht, zu sagen „Hey Junge, sei doch einfach mal glücklich“.
von Nicolaus Niebylski und Svenja Schlicht
Die Namen von Anna, Silvia und Christian wurden von der Redaktion geändert.
Hilfsangebote (Auswahl):
- Telefonseelsorge: jederzeit erreichbar unter 0800 1110111
- Nightline: im Semester täglich 21 – 2 Uhr unter 06221 184708
- Psychosoziale Beratungsstelle, Gartenstraße 2, Anmeldung am Sekretariat
- Psychiatrische Notaufnahme, Voßstraße 4.
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe über psychische Probleme im Studium. Weitere Beiträge: Ehrlichkeit statt Smalltalk und Der Preis des Examens.
Nicolaus Niebylski studiert Biowissenschaften. Beim ruprecht ist er seit dem Sommersemester 2017 tätig – meist als Fotograf. Er bevorzugt Reportagefotografie und schreibt über Entwicklungen in Gesellschaft, Kunst und Technik. Seit November 2022 leitet er das Ressort Heidelberg. Zuvor war er, beginnend 2019, für die Ressorts Studentisches Leben, PR & Social Media und die Letzte zuständig, die Satireseite des ruprecht.
Svenja Schlicht machte im Sommer 2020 ihren Bachelor in Politikwissenschaft und Ethnologie an der Uni Heidelberg. Von Februar 2020 bis August 2020 leitete Sie das Feuilleton. Theater und Kultureinrichtungen waren aber bereits seit Oktober 2019 vor der ruprecht-Redakteurin nicht mehr sicher. Jetzt studiert sie an der Kölner Journalistenschule und freie Journalistin.