Der öffentliche Raum ist voller Unbekannter und lässt keinen Platz für Persönliches. Kopfhörer oder Bücher im Bus sind eine Absage an Kommunikation. In der Fußgängerzone hetzen wir aneinander vorbei. Viele Studierende sitzen alleine in der Mensa, setzen sich nirgends dazu, um sich zu unterhalten. Schließlich sind die anderen Unbekannte, die wollen in Ruhe gelassen werden.
Was, wenn das nicht stimmt? Man könnte miteinander reden, nicht nur, wenn es nötig, sondern auch, wenn es einfach möglich ist. Ich habe den Eindruck, dass das kaum jemand tut, mich eingeschlossen. Was passiert, wenn man es einfach tut? Ich habe einen Selbstversuch durchgeführt und das Wort ergriffen.
Und es ist mir verdammt schwergefallen. Die Sorge, sich für alle sichtbar in eine unangenehme Situation zu befördern, hat mehrere Gespräche verhindert. Um mehr Erfahrungen zu sammeln, habe ich beschlossen, mich mehr als sieben Tage lang der Herausforderung zu stellen.
Dabei habe ich erfahren, dass Offenheit anstrengt. Um Unbekannte anzusprechen, musste ich meine Komfortzone verlassen und meine Mitmenschen auffordern, es mir gleichzutun. Angesichts wiederkehrender Tagesabläufe fühlt sich das Ansprechen eher wie ein gewaltsames Eindringen in die Komfortzone anderer an. Viele könnten eine Einladung zum Gespräch als Aufdringlichkeit auffassen. Das wollte ich vermeiden. Deshalb achtete ich darauf, Menschen so anzusprechen, dass sie sich stets entziehen konnten. Mein erster Kontakt war oft ein „Was trägst du denn für eine interessante Jacke?“ oder ein „Was verschlägt Sie denn so früh morgens an einem Feiertag in die S-Bahn?“
Das hat zum Beispiel bei einem älteren Herrn gut funktioniert. Wir kamen in ein angenehmes Gespräch über Reisen und Musik. Nichts Besonderes, aber die Tatsache, dass man sich nicht kennt und trotzdem austauscht, machte es aufregend. Wir nahmen den Anderen ernst und taten ihn nicht für unnormal ab, nur weil er mit Unbekannten redet. Irgendwann musste der Herr aussteigen und das Gespräch wurde abrupt beendet. Anschließend spürte ich die erstaunten Blicke der Fahrgäste. Natürlich war mein Verhalten nicht der Normalfall, aber wenn mich die Fahrgäste als denjenigen in Erinnerung behalten, der einfach neugierig auf seine Umgebung war, dann ist das positiv. Vielleicht werden sie selbst dazu animiert, in solche Situationen zu gehen. Der Gedanke daran, dass kein vorausgegangenes Gespräch in einer Katastrophe endete, hat mir geholfen, wenn es mir schwer fiel, den Mund aufzumachen.
Die Tage verliefen sehr unterschiedlich. Manchmal führte ich mehrere Gespräche, manchmal gar keines. Ich stellte fest, dass man in der Bibliothek oder bei Veranstaltungen sehr wenig spricht. Es fehlt die Kraft und die Zeit, um ins Gespräch zu kommen. Ich bemühte mich deshalb aktiver darum, die Furcht vor einer unangenehmen Situation zu überwinden. Meistens war der Moment des Einstiegs der anstrengendste. Das Schweigen zerplatzt und der unbekannte Gesprächspartner kriegt einen leichten Schreck. Zur Beruhigung half mir dabei ein „Darf ich ihnen eine Frage stellen?“. Theoretisch kann das jeder ablehnen und weggehen.
Am Ende des Experiments war ich deshalb überrascht: Von über 20 angesprochenen Personen hat keine abgelehnt. Alle, die ich ansprach, antworteten. Sie fragten manchmal selbst nach und freuten sich über das entgegengebrachte Interesse. Nach der ersten Hürde des Ansprechens waren die Wortwechsel eine sehr angenehme Erfahrung. Nicht alle Gespräche waren lang, oft waren es weniger als zwei Minuten, bevor man wieder auseinanderging. Mir erschien das aber ganz natürlich. Selten hat man spontan Zeit für ein längeres Gespräch.
Dennoch fällt es mir immer noch schwer, Menschen einfach so anzusprechen. Ähnlich wie beim Sprung vom Zehnmeterbrett zahlt sich die Überwindung zwar stets aus, trotzdem wird es mit der Häufigkeit der Versuche nicht einfacher. Ich bin auch nicht offener geworden, ich habe nur gelernt, die Offenheit besser zu kanalisieren.
Und die anderen? Wie steht es um die so häufig gepredigte Offenheit? Viel besser, als ich dachte. Aber: Die anderen sind nur so offen zu mir, wie ich zu ihnen. Deshalb ist es gut, sich selbst zu öffnen und das Gespräch zu beginnen. Am Ende freuen sich beide darüber.
von Thomas Degkwitz
Thomas Degkwitz will seit 2019 die Netzwerke der Stadt verstehen. Das hat er für zwei Jahre auch als Ressortleiter “Heidelberg” versucht. Ihm ist das Thema Studentenverbindungen zugelaufen, seitdem kümmert er sich darum. Außerdem brennt er für größere Projekte wie die Recherche zur Ungerechtigkeit im Jurastudium. Lieblingsstadtteil: die grünflächige Bahnstadt (*Spaß*)