Wissenschaft lebt von der Kontroverse. Widerspruch gehört zur Forschung dazu, feste Lehrmeinungen werden überholt, gefeierte Forscher geraten ins Zwielicht. Meistens geht das einigermaßen reibungslos vonstatten, ohne allzu großen Aufschrei. Meistens.
Hans Eysenck war ein herausragender Psychologe, vielleicht der größte seiner Generation. Er hat die Persönlichkeitsforschung auf lange Zeit geprägt, ist über 100 000 Mal zitiert worden, so viel wie sonst kaum jemand in seinem Fach. Der deutschstämmige Brite war jedoch eine schillernde Figur, zeitlebens umstritten, stets von Skandalen verfolgt. Die größte und erbittertste Kontroverse, für die Eysenck steht, ist untrennbar mit einem weiteren Namen verknüpft: Ronald Grossarth-Maticek.
Gemeinsam mit dem Mediziner, der seit Langem in Heidelberg lebt, hat Eysenck eine atemberaubend kühne Theorie über Persönlichkeit als Ursache tödlicher Krankheiten entwickelt. An einem Extrem steht demnach der „krebsanfällige“ Persönlichkeitstyp, am anderen Ende der geistig gesunde, „autonome“ Typ. Je nachdem, welche Einstellung man zu seinem Leben pflegt, hat man dramatisch hohe beziehungsweise niedrige Chancen, an Krebs oder koronarer Herzkrankheit zu erkranken und zu sterben. Eine Verbesserung der inneren Einstellung kann das entsprechende Risiko auf einen Bruchteil schrumpfen lassen – ein Drittel, ein Viertel, weniger als ein Hundertstel. Für Laien mag so etwas schier unglaublich klingen. Für viele Fachleute wirkt es erst recht so. Reihenweise haben Forscher die Ergebnisse in Zweifel gezogen, schon weil sie allem zu widersprechen scheinen, was über den Verlauf solcher Krankheiten bekannt ist. Selbst die Tabakindustrie, die ein Interesse an allem hat, was die Effekte des Rauchens relativiert, ging auf skeptische Distanz.
Manche waren von Beginn an misstrauisch. Anthony Pelosi fragte bald nach den ersten Studien, ob alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Den Psychiater und Epidemiologen lässt der Fall seit 30 Jahren nicht los. 2019 publizierte er im Journal of Health Psychology einen vernichtenden Review-Artikel. Dort bleibt nur die Frage offen, ob Eysenck und sein Partner in Heidelberg tatsächlich Menschen mit akut lebensgefährlichen Krankheiten in ihre psychotherapeutische Studie aufnahmen, anstatt sie sofort medizinisch zu behandeln. Das wäre „grotesk unethisch“ gewesen, sagt Pelosi uns. Eine andere Erklärung steht unbeholfen im Raum: Die Untersuchungen habe es so nicht gegeben. Eysenck habe seinen Heidelberger Schützling, der nicht gut Englisch spricht, manipuliert und ohne dessen Wissen fantastische Thesen verbreitet. Der Herausgeber des Journal of Health Psychology, David Marks, teilt auf Anfrage mit, er habe Grossarth-Maticek die Gelegenheit für eine Erwiderung gegeben. Das habe dieser jedoch ausgeschlagen.
Grossarth-Maticek empfängt uns in seiner geschmackvoll eingerichteten Villa in Neuenheim. Er ist jetzt fast 80 und erzählt mit Freude von seiner langen Karriere in der Forschung. Die längste Zeit davon hat er in Heidelberg verbracht. Eysenck habe es respektiert, dass sein Schützling nicht zu ihm nach London gehen wollte. Das Klima sei dort nicht gut gewesen, zu viel Eifersucht, zu viel Aggression. Wenn der berühmte Eysenck die Methoden der beiden international vorgestellt hat, sei er auf Offenheit gestoßen, solange er Grossarth-Maticek nicht erwähnt habe. Obwohl Eysenck selbst in Großbritannien sehr berühmt und erfolgreich war, sollte seine Zusammenarbeit mit Grossarth-Maticek „gesprengt werden“: Manche forderten Eysenck dazu auf, sich von Grossarth-Maticek loszusagen. Der sei aber besser als alle Kritiker, habe Eysenck unbeirrt entgegnet. Das habe provoziert, aber die beiden seien ein „unerschütterliches Team“ gewesen. Eysenck starb 1997. Seine Witwe ließ kurz darauf all seine Dokumente vernichten. Grossarth-Maticek ist daran gelegen, die Arbeit der beiden in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Er möchte das Erbe der gemeinsamen Studien bewahren. Zudem bot er jahrelang Kurse an, die auf diesen Arbeiten aufbauten. Immer wieder hat er außerdem in den letzten Jahrzehnten mit verschiedenen Instituten der Universität Heidelberg kooperiert, auch wenn er nie selbst an der Uni beschäftigt war.
Infolge von Pelosis Artikel hat Eysencks ehemaliger Arbeitgeber, das King’s College London, eine Untersuchungskommission eingerichtet. Das Komittee hat 26 Artikel in elf Journals für „nicht sicher“ erklärt – weder für die Wissenschaft, geschweige denn für die klinische Praxis.
Wenn man Krankheiten erforscht, muss man für gewöhnlich in der Epidemiologie ausgebildet sein. Grossarth-Maticek räumt ein, dass er kein Epidemiologe ist. Er sieht darin aber keinen Fehler, sondern einen Vorteil. Dieser Forschungszweig betreibe nämlich nur „monokausale“ Untersuchungen; er wolle immer nur je einen Faktor berücksichtigen, indem er alle anderen konstant hält. Das sei gar keine echte Ursachenforschung. Vielmehr müsse man „alle Kausalfaktoren in ein interaktives System einbeziehen und so viele relevante Faktoren wie möglich behandeln“. Grossarth-Maticek und seine Kollegen würden das berücksichtigen und erzielten so stets viel bessere Ergebnisse als die Epidemiologen. Pelosi sagt uns, dass so etwas längst Standard sei. Marks, der Herausgeber, schreibt uns, das Prinzip der multiplen Verursachung seien „nichts Neues für die Wissenschaft.“ Trotzdem beharrt Grossarth-Maticek darauf, dass er viel mehr Faktoren mit einbeziehe als all die anderen Forscher.
Einen weiteren Punkt von Pelosi wischt er einfach vom Tisch. Wenn die Persönlichkeit einen so übermäßigen Einfluss auf das Krebsrisiko und die Mortalität habe, so Pelosi, dann bleibe kaum noch Platz für andere Faktoren, wie etwa das Rauchen. Das sei bloße Spekulation und kein Argument, entgegnet Grossarth-Maticek. Pelosi verweist hingegen darauf, wie stark der Faktor Persönlichkeit in den fraglichen Studien gewesen sein soll – teils dreistellig. In solchen Fällen sei es mathematisch sehr schwierig, dass andere Einflüsse noch eine Rolle spielen. „Das ist keine Spekulation. Es ist einfache Arithmetik“, so Pelosi.
Das Thema Rauchen hat eine besondere Brisanz, da Hans Eysenck zwischen 1977 und 1989 Geld von der Tabakindustrie erhielt. Eysenck selbst bekam 800 000 Pfund, sein Institut noch einmal zwei Millionen. Grossarth-Maticek sagt uns, dass seine Forschung erst dann von der Tabakindustrie unterstützt wurde, als alle Daten schon vorlagen. Überprüfen lässt sich das aber nicht.
Grossarth-Maticek sagt offen, was er über seine Kritiker denkt. Immer wieder bezeichnet er sie als „Denunzianten“. Seine Anwältin bereitet Klagen vor – gegen Pelosi und Marks, aber auch den Guardian, der im November kritisch berichtet hatte, ohne eine schriftliche Gegendarstellung folgen zu lassen. Die Guardian-Redakteurin Sarah Boseley schreibt uns, Grossarth-Maticek habe die Frist dafür verpasst. Ein Podcast der Zeitung hat seine Stellungnahme aber aufgenommen. Darin hieß es bereits, er wolle Pelosi verklagen. Uns gegenüber bekräftigt er dies.
So sehr er um seinen Ruf besorgt ist, so wenig interessiert es ihn augenscheinlich, was Kritiker aus seiner Forschung machen. Manfred Amelang, ein emeritierter Professor für Psychologie an der Uni Heidelberg, ist seit Langem als Skeptiker seiner Arbeit bekannt. Einmal habe Amelang Originaldaten für eigene Auswertungen angefordert. Eine studentische Hilfskraft von Grossarth-Maticek habe ihm Daten von mehreren Hundert Fällen zur Verfügung gestellt – aber mit vertauschten Krankheitsbildern, damit Amelang mit falschen Daten publiziert. So wäre zum Beispiel eine Frau mit Brustkrebs fälschlich als Herzinfarktpatientin gelistet worden, erzählt Grossarth-Maticek freimütig. Er selbst war entsetzt und hätte das nie erlaubt, sagt er, aber was hätte er tun sollen? Er hätte darüber nicht etwa im British Medical Journal schreiben können. Deshalb sei der Fall bis heute ungeklärt.
Als wir Amelang danach fragen, widerspricht er dieser Darstellung fast vollständig. Er habe nur Daten über „sechs oder sieben Personen“ erhalten, viel zu wenige also, um eine Studie darauf zu bauen. Wer von den beiden recht hat, konnten wir nicht ermitteln.
Eines allerdings konnten wir klären, nach mehr als 30 Jahren Unsicherheit. Die längste Zeit über war nicht bekannt, ob der sonst zurückhaltende Grossarth-Maticek tatsächlich Arzt ist. Jetzt erklärt er uns, dass er einen medizinischen Doktortitel von der Universität Belgrad hat. Diese hat ihm tatsächlich den Titel „Dr. med. sci.“ verliehen, welchen das Regierungspräsidium Stuttgart als in Deutschland gültigen „Dr. med.“ anerkannte. Die Urkunde aus Belgrad dürfen wir einsehen und veröffentlichen, wie auch einiges mehr (siehe Wegweiser). Grossarth-Maticek stellt uns viele Dokumente etablierter Wissenschaftler zur Verfügung, die ihn loben und empfehlen.
Manche seiner Qualifikationen sind dagegen unklar. Psychologie hat Grossarth-Maticek nicht studiert. Sein Mentor Eysenck bildete ihn über zwölf Jahre hinweg zum psychologischen Verhaltenstherapeuten aus und schrieb darüber hinaus eine Empfehlung für seine Kassenzulassung. Eysenck galt als bahnbrechender Akademiker, aber nicht als praktizierender Therapeut. Pelosi zufolge konnte er Grossarth-Maticek daher gar nicht ausbilden.
Für Pelosi und Marks, die Kritiker von Eysenck und Grossarth-Maticek, müssen nun Taten folgen. Starke staatliche Aufsichtsbehörden und Ombudspersonen für Fälle möglichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens seien notwendig, um so etwas wie den Skandal um die Theorie von der Krebspersönlichkeit in Zukunft zu verhindern. Es gehe nicht um einzelne Personen oder Institutionen, schreibt Marks, sondern um die Integrität der Wissenschaft.
Von Lukas Jung und Hannah Steckelberg
Wegweiser
Ronald Grossarth-Maticek hat es uns gestattet, einige Dokumente aus seinem Eigentum zu veröffentlichen. Sie sind hier zu finden. Für eine englische Übersetzung dieses Artikels siehe hier.
Lukas Jung studiert Philosophie und Politikwissenschaft. Er schreibt seit SoSe 2018 für den ruprecht – vor allem über Wissenschaft, Investigatives und Stadtentwicklung. Seit SoSe 2019 leitet er das Ressort Wissenschaft. ruprecht-Urgestein.
Hannah Steckelberg studiert Osteuropastudien und Germanistik im Kulturvergleich. Seit 2016 ist sie beim ruprecht – erst nur als Fotografin, seit 2017 auch als Autorin. Am liebsten schreibt sie Reportagen aller Art sowie ihre Kolumne “Hochschule bleibt stabil”. 2019/20 leitete sie zwei Semester lang das Ressort Seite 1-3, inzwischen lebt sie in Wien.
Nicolaus Niebylski studiert Biowissenschaften. Beim ruprecht ist er seit dem Sommersemester 2017 tätig – meist als Fotograf. Er bevorzugt Reportagefotografie und schreibt über Entwicklungen in Gesellschaft, Kunst und Technik. Seit November 2022 leitet er das Ressort Heidelberg. Zuvor war er, beginnend 2019, für die Ressorts Studentisches Leben, PR & Social Media und die Letzte zuständig, die Satireseite des ruprecht.
Grossarth-Maticek begegnete ich vor einigen Jahren zufällig im Heidelberger Schloßpark, als ich gemeinsam mit einer Freundesclique dort unterwegs war. Es entwickelte sich mit Grossarth-Maticek ein herzliches und sehr interessantes Gespräch. Egal, wie man im Einzelnen seine Studien und deren wissenschaftliche Stichhaltigkeit werten mag, vertritt er überaus interessante Ansätze, die sich Teilbereichen auch mit meinen bloßen Beobachtungen meiner Mitmenschen decken. Es mag Zufall sein, doch habe ich schon des Öfteren beobachtet, dass z.B. verbitterte Menschen und solche mit einer sehr pessimistischen Lebenseinstellung viel häufiger an Krebs oder schweren chronischen Krankheiten erkranken, als Menschen mit einer lebensbejahenden, fröhlichen und positiven inneren Einstellung. Grossarth-Maticek hat ja für seine Theorie bestimmte Persönlichkeitstypen entwickelt, die selbst bei oberflächlichlicher Betrachtung durchaus logisch und der Realität entnommen erscheinen. Mir kommen beim Durchgehen dieser Persönlichkeitstypen sofort bestimmte Menschen in den Sinn, wo ich – subjektiv – sagen kann: Jupp, das trifft tats. bei dieser oder jender Person wie die Faust aufs Auge. Auf alle Fälle sollte man sich durchaus selbst ein wenig mehr über diese Lehren informieren, weil es einfach ein absolut interessanter Bereich ist. Mir blieb jedenfalls die kurz Begegnung mit Grossarth-Maticek in positiver Erinnerung, denn sie regte zu fruchtbaren Gedenkengängen und interessanten Diskussionen im Familien- und Freundeskreis an.