„Es wird schwierig den Studenten begreiflich zu machen, warum wir den Eingang zu den Unigebäuden blockieren.“ Thomas kommt wieder darauf zu sprechen, welche Auswirkungen die Demonstration am kommenden Mittwoch nach sich ziehen wird. „Sobald es zu heftig wird, lassen wir die Leute durch. Unser Feind ist das Ministerium, der Staat, und nicht die Studenten.“ In einem Seminarraum sitzen neben Thomas 70 weitere Studenten und planen: Wie organisieren wir uns für den Streik? Ein paar Leute an jedem Gebäude oder alle am Eingang positionieren? Alles natürlich etwas chaotisch, nach studentischer Manier.Seitdem am 17. September dieses Jahres die Präsidentin der Universität Montpellier III, Anne Fraïsse, das Ende des Centre du Guesclin angekündigt hat, werden in Montpellier Proteste laut. Der 700 Studenten fassende Außencampus im 70 Kilometer entfernten Béziers, der nicht mehr wirtschaftlich sei, wird schließen müssen, damit die Universität keine finanziellen Verluste macht. Parallel zu Demonstrationen in ganz Frankreich protestieren die Studenten in der achtgrößten Stadt des Landes gegen die nationale Bildungspolitik, die aktuell die Unis zur Austerität zwingt.
Die Maßnahmen, die Fraïsse im Hinblick auf das Budget ihrer Universität ergreifen muss, gehen auf das Fioraso-Gesetz zurück, das am 22. Juli verabschiedet wurde. Das Gesetz, nach Bildungsministerin Geneviève Fioraso benannt, ist ein weiterer Schritt im Rückzug des Staates aus der Finanzierung der Bildung. Es gründet auf dem Gesetz über die Verantwortung und die Freiheit der Universitäten (loi LRU), das vor sechs Jahren den Prozess in Gang gesetzt hat, der zur heutigen finanziellen Autonomie der Universitäten geführt hat. Seitdem ist deren finanzielle Situation defizitär, weshalb Fraïsse harte Maßnahmen angekündigt hat. Zusätzlich zur Schließung des Centre du Guesclin und der Kürzung des Budgets für Auslandsstudenten werden Studienplätze künftig limitiert und per Losverfahren vergeben.
Um sich gegen diese Maßnahmen zu wehren, trifft sich der „Co mob‘“, das Komitee zur Mobilisation der Studenten, in unregelmäßigen Abständen, um Protestaktionen zu organisieren. Dazu gehören Demonstrationen überall in der Stadt. Neben dem üblichen Sitzstreik auf den Tramlinien gibt es oft kreative, guerillaartige Vorschläge, etwa eine „Befreiung“ der Autofahrer von der Maut. Statt für die Benutzung der Autobahn, zahlen die Fahrer in eine bereitgestellte Kasse des Co mob‘ ein. Hauptpunkt des heutigen Treffens ist allerdings die Blockade aller Unigebäude und die Besetzung des größten Hörsaals, um dort die Assemblée Générale (AG), die Hauptversammlung, abzuhalten.
Anders als Thomas ist Mathieu dabei weniger umsichtig: „Warum soll ich den Leuten erklären, was in der AG beschlossen wurde? Ich sag denen: Geht doch lieber selbst zur AG!“ Mathieu hat in den Ferien ein dreiseitiges Flugblatt verfasst, das die beiden umstrittenen Gesetze kurz zusammenfasst und den Studenten verdeutlicht, warum sie zur AG kommen und am Protest teilhaben müssen. Trotz eines gewissen Militantismus ist es kein blinder Demonstrationswahn, der die Menschen hier zum Protestieren bewegt. „Die Schließung Béziers‘ ist dem Staat nicht genug,“ wird eine Studentin später in der AG sagen, „die Uni muss sich anstrengen, um wirtschaftlich zu bleiben. Für mich ist das eine Geringschätzung des Bildungsministeriums gegenüber den Studenten, der Uni, der Forschung.“
Im Co mob‘, der die Beschlüsse der AG umsetzt, fällt der Begriff interaktive Pädagogik: ein Vorschlag, mithilfe von Kaffee, Kuchen und Livemusik den Studenten die Blockade begreiflich zu machen. Nachdem jedem zu blockierenden Gebäude einige Studenten zugeordnet sind und die Planung zeit- und zwangsweise zu einer hitzigen Diskussion über Facebook und Google abgeschweift ist, beschließt man am nächsten Tag Flugblätter zu verteilen und sich Mittwoch um 6:50 Uhr am Haupteingang zu treffen, um die Blockade vorzubereiten.
Das Besondere an der akademischen Landschaft Frankreichs ist, dass in vielen großen Städten mehrere Universitäten existieren. Nach den Studentenprotesten im Mai 1968 teilt sich auch die Uni Montpelliers auf. Die Fakultäten Literatur, Kunst, Sprachen und Sozialwissenschaften schließen sich zur Université Paul-Valéry Montpellier III zusammen. Heute fasst der Campus der Uni, von den Studenten Paul Va genannt, knapp 18.000 Studenten. Mit den anderen beiden Unis und insgesamt etwa 60.000 Studenten ist Montpellier nach Poitiers die zweitgrößte Studentenstadt Frankreichs, relativ zu ihrer Einwohnerzahl.
Dementsprechend groß ist auch der Protest am Mittwoch. Größer noch als in Paris oder Lyon, hat der Co mob‘ hier die erste Blockade aller Unigebäude mit Ausnahme der Bibliothek erreicht. Am Morgen veröffentlichte eine Kommission einen Bericht, der belegt, dass Béziers in der Tat wirtschaftlich ist aber dennoch Geld vom Staat benötigt, um weiter zu funktionieren. Fraïsse zeigte daraufhin Verständnis für den Streik der Studenten. Überall hängen Plakate, vor dem großen Hörsaal ist ein Pavillon mit Kaffee und Sandwiches aufgebaut. Die Blockade ist ein Erfolg, gleichzeitig findet in Grenoble eine AG statt. Am nächsten Tag wird die Uni Toulouse Mirail streiken, in Lille, Nantes und an fünf der 13 Pariser Unis werden sich AG‘s und Co mob‘s bilden.
Man bekommt den Eindruck, in Montpellier der Wiedergeburt der Studentenproteste von 1968 beizuwohnen. Die Bewegung ist, wenn auch noch nicht explizit so genannt, essentiell eine Occupy-Bewegung. Der Grund für die Blockade ist es, den Studenten, die an diesem Tag Kurse hätten, die Teilnahme an der AG zu ermöglichen. Diese ist basisdemokratisch organisiert, jeder kann sich auf der Redeliste eintragen lassen und Vorschläge machen. Während der jeweiligen Beiträge äußern die Teilnehmer ihre Zustimmung oder Ablehnung per Occupy-Gesten, abgestimmt wird ebenfalls per Handzeichen. Zum Leidwesen vieler Studenten und der abgekämpft aussehenden AG-Leiter muss jeder noch so absurde Vorschlag diesen Prozess durchlaufen. Sobald eine Abstimmung nicht klar ist, wird jede einzelne Hand gezählt. Der Vorgang ist zeitintensiv und nervenaufreibend. Was die Mittel des Protests angeht, sind die Studenten gespalten: „Ich finde es sinnlos, Vorhängeschlösser vor die Gebäude zu hängen, um uns zu zwingen, an der AG teilzunehmen“, beschwert sich eine Studentin. Der Dialog zwischen „mobilisierenden“ und „zivilen“ Studenten ist schwierig – aber er existiert.
Zwar ist der größte Raum der Universität randvoll – mit 800 der 18.000 Studenten am Campus ist dennoch nur ein Bruchteil der gesamten Studentenschaft vertreten. Dafür nehmen jedoch auch Dozenten und Verwaltungspersonal teil. Sogar zwei Angestellte von Sanofi, dem größten Pharmaunternehmen Frankreichs, gegen das aufgrund von Entlassungen ebenfalls heftig protestiert wird, sind bei der AG anwesend. Sie zollen der Mobilisierung Respekt und schlagen eine „convergence des luttes“, einen Zusammenschluss der Proteste, vor.
Nach fünf Stunden löst sich die AG schließlich auf. Die Beschlüsse: eine Demonstration vor der Präfektur im Anschluss an die AG, eine gemeinsame Facebook- und Internetseite mit Sanofi und anderen Studentenprotesten und ein Aufruf zum nationalen Aktionstag mit nächtlicher Demonstration.
Und die Blockade der Uni bis zum nächsten Dienstag – das bedeutet kein Unterricht für die nächsten drei Unitage. Eine harte Maßnahme, aber für 293 Stimmen eine notwendige. „Jeder muss stolz sein auf das, was hier passiert“, sagt Sebastien, ein ehemaliger Student. „Uni und Bildung sind auf dem Weg, eine Industrie zu werden. Das ist eine Schande, und deshalb ist es wichtig, dass man sich zusammensetzt. Deshalb habe ich meine Kinder mitgebracht: um zu zeigen, wofür wir das hier machen. Es ist vor allem deren Zukunft.“
von Philipp Fischer