Dieser Artikel erscheint im Rahmen unserer Corona-Onlineausgabe.
Die Romantiker, eine Gruppe tollkühner und blauäugiger Jünglinge mit außerordentlichem Talent und Feingefühl für Sprache und die schönen Künste, betreten am Ende des 18. Jahrhunderts die Weltbühne. Verstanden als Gegenbewegung zur Aufklärung, wollen die Romantiker die Welt nicht rational erklären, sondern sie in der Imagination rückverzaubern. Sie erwecken in ihren Werken die Sagen- und Märchenwelt der mittelalterlichen Vorzeit zu neuem Leben.
Der Dichter Joseph von Eichendorff ist einer ihrer Nachzügler und man kann sagen, dass seine Zeit in Heidelberg nicht nur fragmentarisch war, sondern auch sehr fragmentarisch überliefert ist. Nur wenige Tagebucheinträge geben Auskunft über seinen fast einjährigen Aufenthalt: Mai 1807 kommt Eichendorff zusammen mit seinem Bruder Wilhelm nach Heidelberg, um Jura zu studieren. Er ist 19 Jahre, als er mit großer Begeisterung durch das Karlstor in die märchenhafte Stadt Heidelberg zieht. Er lässt sich im Haus des Bäckermeisters Förster auf der Hauptstraße in Rohrbach nieder und schließt schnell Freundschaft mit dem Dichter Otto von Loeben und den Theologen Friedrich Strauß und Wilhelm Budde. Sie gründen einen Dichterkreis, genannt „Eleusinischer Bund“, und geben sich gegenseitig Namen aus der griechischen Sagenwelt. Ihre selbstgedichteten Lieder auf den Lippen durchwandern „Florens“ (Eichendorff), „Pollux“ (sein Bruder Wilhelm) und „Isidorus“ (Loeben) die Wälder und Täler rund um Heidelberg. Ein Treffpunkt ist das Wirtshaus „Zum roten Ochsen“ in Rohrbach, wo man Pläne schmiedet, Gedichte vorträgt und kritisiert, philosophiert und heftig diskutiert und nebenbei mit den Dienstmädchen, den „Minken“ schäkert, die in ihren Theaterstücken auftreten.
Doch Eichendorff zieht es zu einer bestimmten Frau hin: Katharina Förster, die junge Schwester des Bäckermeisters hat es ihm angetan. Im Herbst 1807 gehen die beiden ein Verhältnis ein, das sich zu einer innigen Liebschaft entwickelt. Etwa ein halbes Jahr treffen sich die Geliebten regelmäßig in Rohrbach. Zu einer ernsthafteren Geschichte wurde es aus Unterschieden in Stand (Eichendorff stammte aus einer schlesischen Adelsfamilie) und Religion jedoch nicht. Ein jähes Ende nimmt die Beziehung mit dem Aufbruch der Eichendorff-Brüder nach Paris im April 1808. Mit der schmerzhaften Trennung von Katharina Förster lässt Eichendorff Heidelberg hinter sich. Er verarbeitet diese unerfüllte Jugendliebe in dem Gedicht „Das zerbrochene Ringlein“, das bis in die Gegenwart von Künstlern wie Max Raabe und früher etwa den Comedian Harmonists interpretiert wurde.
Im Eingang des Gedichts kommt beim Anblick der Rohrbacher Gegend die Erinnerung an die ehemalige Geliebte auf: „In einem kühlen Grunde / Da geht ein Mühlenrad, / “. Dieses Mühlenrad wird mit der Geliebten assoziiert, „die dort gewohnet hat / “. Das Mühlenrad wird in der Gegenwart zum akustischen Träger der guten, alten Zeit, die mit dem Treuebruch der Geliebten endete. Beim erneuten Hören des Rades realisiert das lyrische Ich, wie weit es von dieser guten, alten Zeit entfernt ist und gerät in todessüchtige Verzweiflung.
Ein Anhaltspunkt für die Interpretation solcher Liebesgedichte liegt darin, dass sich die Erinnerung und Wahrnehmung des Subjekts an eine äußere Erscheinung, ein Objekt, das Mühlenrad, heftet und es dergestalt subjektiviert, das heißt, die Trennung zwischen ihm und dem Objekt aufhebt. Das Mühlenrad wird zur echohaften Erinnerung des Subjekts.
Verschlägt es einen heute zum kühlen Grund nach Rohrbach, findet man nicht nur die Geliebte nicht, sondern auch das Mühlenrad fehlt. Autos – hochbeschleunigte, pferdelose Postkutschen – kommen die steile Straße heraufgefahren und verduften wohl kaum in der Mondnacht. Die Häuserfassaden stammen aus den 60er Jahren. Ein Stromkasten, grüne Metallzäune, verrostete Stangen im Gebüsch, an den Häuserwänden verstrichener Beton. Der Waldweg in der Nähe des kühlen Grundes wird von LED-Laternen bewacht. All das hätte Eichendorff nicht verstanden.
Was Eichendorff an Rohrbach angezogen hat und was sich in Teilen noch heute vorfindet, ist der märchenhafte Eindruck: An Sandsteinmauern ranken sich die Reben und die dornigen Rosen. Verwinkelte Gässchen führen auf Plätze, auf denen Brunnen rauschen und auf einem Hügel liegt eine kleine Kirche. Dazwischen und dahinter kann man den Wald riechen und den Wind in seinen Ästen hören. All das erfreute und erfüllte das Dichterherz. In wenigen Schritten hat man es hier mit jener „Waldeseinsamkeit“ zu tun, die wie ein Passwort in jedem zweiten Gedicht von Eichendorff auftaucht.
Rohrbach entsprach so ziemlich der Welt, die Eichendorff in seiner Phantasie ausbildete. Der Übergang vom Leben zur Kunst gestaltete sich leicht, nicht wie in den großen Städten, wo die industrielle Revolution schon ihre ersten Spuren hinterlassen hatte. Eichendorff gesteht es im Alter selber zu, wenn er sich an seine Zeit in Heidelberg zurückerinnert: „Heidelberg ist selbst eine prächtige Romantik; da umschlingt der Frühling Haus und Hof und alles Gewöhnliche mit Reben und Blumen, und erzählen Burgen und Wälder ein wunderbares Märchen von der Vorzeit, als gäbe es nichts Gemeines auf der Welt.“
Ist dann unsere Welt eine durch und durch gemeine? Um nicht der Verzweiflung des lyrischen Ichs anheimzufallen, vertraue man auf das Wort des Literaturwissenschaftlers Werner Bergengruen, der 1955 über Eichendorffs Kunst das Folgende schrieb: „Eichendorffs Welt ist stilisiert. Es hat sie nirgends und nie gegeben, aber es gibt sie überall und zu jeder Zeit. Sie hat die Unwirklichkeit und die Wirklichkeit dessen, was sich innerhalb der menschlichen Seele begibt und von dort aus das Leben verwandelt. Überall rauscht in Eichendorffs Werk der Wald der deutschen Mittelgebirgslandschaft, auch in Spanien, Italien oder in der Provence.“
Von Bruno Glöckner
Bruno Glöckner studiert Philosophie und Germanistik im Master. Er schreibt seit dem WiSe 2019 für den ruprecht und begibt sich in Feuilleton und der Heidelberger Historie auf die Spuren der großen Dichter und Denker, die durch Heidelberg gekommen sind. Nur in seinen Glossen setzt er sich mit dem Zeitgeschehen auseinander.