Dieser Artikel erscheint im Rahmen unserer Corona-Onlineausgabe.
Rassismus gegenüber asiatisch aussehenden Menschen hat in den letzten Monaten in ganz Deutschland stark zugenommen. Die Betroffenen werden beleidigt, bedroht und sogar körperlich angegriffen. Man macht sie verantwortlich und scheint eine Verkörperung des sonst so schwer greifbaren Virus gefunden zu haben.
Eine Heidelberger Studentin erzählt mir, wie ihr in der Plöck im Vorbeifahren “Corona” hinterhergerufen wurde. Einige Tage später passierte ihr dasselbe in der Straßenbahn und dann erneut auf offener Straße. Was für ein Gefühl das in ihr ausgelöst hat, frage ich sie. Es ist schwer zu beschreiben. Nach der anfänglichen Verwirrung und der Erkenntnis, dass man tatsächlich gemeint ist, wohl ein durch und durch ungutes. Sie erklärt, dass sie die Befürchtung gehabt habe, wegen ihres Aussehens mit solchen Situationen konfrontiert zu werden. Dennoch war sie davon ausgegangen, dass es ihr nicht passieren würde, vor allem nicht in Heidelberg.
Als sich die WHO Anfang dieses Jahres gezielt gegen eine Benennung des Virus nach seinem Herkunftsort Wuhan aussprach, wollte sie gerade solche Situationen verhindern. Anders als bei MERS (“Middle Eastern Respiratory Syndrome”) und der Spanischen Grippe versuchte man einen Namen für das Virus zu finden, der frei von Wertung ist. Er sollte auf keinen Fall die Stigmatisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe begünstigen. Mit Covid-19 oder Corona schien man auf der sicheren Seite.
Trotzdem ist es zu Anfeindungen gegen asiatisch aussehende Menschen gekommen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Aber auch andere Bevölkerungsgruppen sind betroffen.
In Ungarn beschuldigt Premierminister Orbán “illegale Migranten”, in Bulgarien werden Roma verantwortlich gemacht, in Indien warnt man vor dem Corona-Dschihad der Muslime und in China scheinen Menschen afrikanischer Herkunft die Übeltäter zu sein.
Sind das neue Phänomene? Wohl kaum. Anfeindungen gegen diese Bevölkerungsgruppen hat es schon vor der Corona-Pandemie gegeben und es wird sie auch noch nach der Corona-Pandemie geben. Die augenblickliche Situation hat lediglich dazu geführt, dass schon bestehende Ressentiments unter dem Deckmantel der Corona-Pandemie erstarken und sich besonders offen zeigen. Wenn Menschen sich entschließen auf offener Straße Anfeindungen auszusprechen, machen sie das in der Regel, weil die Angst vor Konsequenzen fehlt. Die Corona-Pandemie scheint ihnen eine Berechtigung gegeben zu haben, ihre Vorurteile in einem gesellschaftlich akzeptierten Rahmen zu äußern. Denn das bedeutet kein Widerspruch.
Es ist zu einfach diesen Alltagsrassismus allein durch die Corona-Pandemie zu erklären. Es geht um mehr als eine verängstigte Gesellschaft, die einen Sündenbock sucht oder einige wenige Extremisten ihrer Ränder. Der Rassismus, der sich äußert, wenn vor asiatisch aussehenden Menschen in der Supermarktschlange zurückgewichen wird, kommt direkt aus der Mitte der Gesellschaft.
Es handelt sich um den Teil der Gesellschaft, bei dem man vor dem geschichtlichen Hintergrund Deutschlands gerne generell davon ausgeht, dass er ausreichend sensibilisiert ist. Alltagsrassismus hat jedoch nicht mit dem Ende des Nationalsozialismus aufgehört. Das ist schwer zu akzeptieren, vor allem auch, weil diese Form von Rassismus meist sehr subtil und versteckt ist. Es ist leichter, über den offenen, gewalttätigen Rassismus zu sprechen. Er ist greifbarer und lässt sich auf ein Ereignis reduzieren, für das sich schnell Schuldige finden lassen. Einen ganzen Gesellschaftsteil zu beschuldigen, ist deutlich unbequemer.
Dabei wäre eine breite Auseinandersetzung mit beiden Formen des Rassismus durchaus wünschenswert. Denn was “normal” und was “nicht normal” ist, wird in einer Gesellschaft durch die Mehrheit bestimmt. Ihre Werte und Vorstellungen darüber, wie man sich zwischenmenschlich begegnet, sind die Leitlinien, die unser Zusammenleben beeinflussen. Die Gesellschaft definiert auf diese Weise nicht nur “Normalität”, sondern auch ein Stück weit sich selbst. Bei alledem sollte sie nicht vergessen, dass diese Werte und Vorstellungen nicht in Stein gemeißelt sind. Sie unterliegen einem ständigen Wandel, der auch vor der Gesellschaft an sich nicht Halt macht.
Unsere politischen Institutionen sehen sich berechtigterweise dazu gezwungen, hochsensibel mit dem aktuellen Ausnahmezustand umzugehen. Das Bewusstsein der Bevölkerung ist dafür geschärft, dass er nicht zum Normalzustand werden darf, vor allem um die demokratischen Grundrechte zu wahren. Ein Anliegen, das sich nicht nur darauf beschränken sollte. Auch Situationen, in denen sich Menschen auf offener Straße angefeindet sehen, dürfen nicht ohne Konsequenzen bleiben und noch viel wichtiger: Sie dürfen nicht zum Teil unserer Normalität werden.
Von Sarah Ellwardt
Sarah Ellwardt studiert Humanmedizin und schreibt seit März 2020 für den ruprecht – vor allem für das Ressort Wissenschaft. Ihr Antrieb ist es, einen Zugang zu aktuellen wissenschaftlichen Themen zu schaffen, um die Welt verständlicher zu machen. Seit Dezember 2020 leitet sie das Ressort Studentisches Leben.