„No Justice! No Peace!” Seit zwei Wochen ist dieser Protestschrei in jedem der 50 US-amerikanischen Bundesstaaten zu hören. Am Wochenende ist er auch nach Deutschland gedrungen. An sogenannten Silent Demos versammelten sich bundesweit tausende Menschen, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Ausgelöst wurde dies vom Mord an George Floyd, der Ende Mai in den USA verhaftet worden war. Ihm wurde vorgeworfen, einen 20 Dollar-Schein gefälscht zu haben. In einem Video, das nun Millionen Menschen gesehen haben, sieht man den weißen Polizisten – Derek Chauvin – im Zuge der Festnahme fast neun Minuten lang auf Floyds Nacken knien, bis dieser erstickt. Seine verzweifelten Schreie, er könne nicht atmen, werden ignoriert.
Die „Black Lives Matter“-Bewegung lebt wieder auf, dieses Mal so groß wie wohl noch nie zuvor. Ein Aufschrei nach Gerechtigkeit für Floyd und seine Familie geht durch das Land, aber auch für die vielen anderen Afroamerikaner, die der Polizeigewalt zum Opfer gefallen sind. Dies sei ein Zeichen systematischer Diskriminierung gegenüber schwarzen Menschen seitens der Polizei, beim Verdacht auf vergleichsweise harmlose Straftaten. Es folgen gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei. In vielen US-Bundesstaaten wird die Nationalgarde einberufen, um die Proteste einzudämmen.
In Deutschland soll nun Solidarität gezeigt werden: Am 6. Juni werden dazu in den meisten Großstädten „Silent Demos“ organisiert. Es wird empfohlen, als Zeichen von Trauer für George Floyd ein schwarzes Oberteil zu tragen. In Mannheim versammeln sich rund 4000 Menschen vor dem Schloss. Dort schweigen sie acht Minuten und 46 Sekunden lang – genau die Zeit, in der Derek Chauvin den unbewaffneten Floyd ersticken ließ. Dabei wird die Faust gehoben, ein Zeichen, das seit der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre Black Power ausdrücken soll. Es ist ein ernüchternder Moment. Zu spüren, wie lange sich acht Minuten anfühlen können und sich vorzustellen, wie hilflos ein Mensch in einer solchen Situation sein, wirkt sich sichtlich auf alle Anwesenden aus.
Es soll aber nicht nur um Polizeibrutalität in den USA gehen: Verschiedene Redner sprechen über den Alltagsrassismus, den sie in Deutschland widerfahren. „Rassismus ist so viel mehr als ihr glaubt zu wissen. Rassismus ist Seife, eine Badewanne, ein kleines Mädchen und der Versuch, sich die Hautfarbe abzuwaschen.“ Die Aktivistin Melanelle kann kaum ihre Tränen zurückhalten, als sie von dem Leid vieler schwarzer Deutscher berichtet. Auch sogenannte Mikroaggressionen führen dazu, den Rassismus am Leben zu erhalten. „Du bist hübsch für eine Schwarze!“ oder „Kann ich mal deine Haare anfassen?“ – nur zwei von unzähligen Aussagen, mit denen sie zu kämpfen haben. Moses, ein weiterer Aktivist, spricht davon, mit dem N-Wort beschimpft worden zu sein und dass die Herkunft seines ruandischen Vaters von seiner weißen deutschen Familie nicht akzeptiert wurde.
Es ist ein Ort, der zugleich Trauer und Hoffnung bereitet. Trauer über George Floyd, über Breonna Taylor, Eric Garner, Tamir Race und so viele mehr. Trauer über die erschütternden Berichte, die die Aktivisten und Aktivistinnen auf die Bühne bringen. Trauer, dass Gerechtigkeit und Gleichheit immer noch Ideen sind, und keine Realität. Doch beim Blick in die Menge, in die vielen Gesichter der Menschen aller Hautfarben, jeglichen Alters, die sich versammelt haben, um ein Zeichen zu setzen, um zu lernen, und um zu kämpfen, wächst die Hoffnung. Es soll schließlich auch nicht nur ums Trauern gehen. Weiße und andere POCs wollen lernen, wie sie dem Problem entgegenwirken können. An vielen Stellen betonen die Redner und Rednerinnen die Zusammenarbeit: „Verantwortung bedeutet, zu verstehen, dass dieses Problem nicht unser Problem ist, nur weil wir betroffen sind,“ sagt Melanelle. Alle müssten gegen systemischen Rassismus kämpfen, jeder müsse einschreiten, wenn er sieht, wie jemand Rassismus zum Opfer fallen könnte. Nur so ließe sich das Problem auch in Zukunft eindämmen. Es reiche aber auch nicht, dass jeder Einzelne handelt – das System brauche eine grundlegende Veränderung. „Verantwortung bedeutet, dass wir die Kolonialvergangenheit von Deutschland aufarbeiten, damit die früh gesäten Samen nicht erneut aufblühen. Damit eure Kinder nicht zu den Problemen meiner Kinder werden.“
Natascha Koch studiert Politikwissenschaften und Geschichte und schreibt seit 2019 für den ruprecht. In ihren Artikeln dreht es sich um aktuelle politische und gesellschaftliche Trends und alles, was die Welt bewegt – oder auch nur das Internet. Seit 2020 leitet sie das Ressort für die Seiten 1-3.