In den vergangenen Jahren war ich meist im Wald, um meinen Tag ausklingen zu lassen. Ich fühlte mich danach erholt, achtsamer und weniger gestresst. Also warum nicht die positiven Seiten regelmäßiger Waldspaziergänge gleich zu Beginn des Tages auf mich wirken lassen? Durch die zeitlichen Möglichkeiten des Onlinesemesters wird auch gleich ein selbstexperimentwürdiger Morgenmuffel-Extremsport daraus: Eine Woche um 5:00 Uhr aufstehen, Zähne putzen, Kaffee kochen und in der Natur wach werden.
Tag eins: Waldgeräusche wecken mich. Ich bin verwirrt. Schnell werde ich mir meiner misslichen Lage bewusst: Etwas masochistisch entschied ich mich am Vorabend für einen passenden Weckton. Es ist 5:00 Uhr und dank bisheriger Frühaufsteher-Erfahrungen weiß ich, dass ich keine Sekunde zögern darf – sonst überwältigen mich Gedanken à la „nur noch fünf Minuten“. Ausnahmsweise halte ich mich an eine Weisheit und siehe da: Eine halbe Stunde später bin ich eingehüllt in das Zwitschern, das mich zuvor noch so sehr verstörte. Ich spaziere ein wenig, trinke meinen Kaffee und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Doch allmählich gesellt sich zu dieser romantischen Szenerie ein unliebsamer Gast: die Müdigkeit. Nach zwei Stunden des Waldaufenthaltes begebe ich mich also auf den Nachhauseweg, denke mir „nur fünf Minuten“, lege mich ins Bett und schlafe zwei Stunden.
Tag zwei und ich spüre noch immer fehlenden Schlaf. Die aufregende Ungewissheit des ersten Tages ist verschwunden. Rücksichtslos wird sie durch Faulheit und Zweifel abgelöst. Immerhin habe ich in den vergangenen beiden Nächten insgesamt nur ungefähr sechs Stunden geschlafen. Doch kein Grund aufzugeben. Mein Körper muss sich umgewöhnen. Bis dahin ist mein Morgenritual ein desorientierter Ausbruch aus der Morgenmuffel-Komfortzone. Doch während ich ungefähr 40 Minuten später in den erfrischenden Morgenwald eintauche, bin ich mir sicher, dass sich dieser Kampf lohnt. Zwei Stunden vergehen wie im Flug und von meiner Müdigkeit ist nicht mehr viel übrig.
Der dritte Morgen verläuft soweit ohne nennenswerte innere Konflikte. Um 5:30 Uhr schließe ich mein Fahrrad ab und schlendere in Richtung des Waldweges. Auf den letzten asphaltierten Metern verspüre ich bereits eine angenehme Vorfreude. Nachdem ich vom erfrischenden Vogelzwitschern und Blätterrauschen umhüllt bin, verwandelt sich diese Vorfreude in eine Art Urlaubsgefühl. Es fühlt sich an wie ein gelungener Ausflug aus dem Alltag. Ein Abenteuer, welches täglich unentdeckt vor meiner Haustür schlummert.
An Tag vier wird mir die morgendliche Waldesfrische recht spät zuteil: Ich liege ungefähr 2 Stunden bevor mein Wecker klingelt im Bett, schlafe endlich ein, höre den Wecker nicht und wache um 6:15 Uhr auf – vermutlich durch mein schlechtes Gewissen. Wegen der fortgeschrittenen Uhrzeit begrüßen mich bereits einige parkende Autos und weit entferntes Hundebellen. Ein wenig Gesellschaft stört mich aber nicht. Mich kann gerade wenig stören. Dank der Extraportion Schlaf fühle ich mich motiviert und spätestens nach der Extraportion Natur noch viel mehr. Dieses Morgenritual wirkt Wunder. Die Ausgeglichenheit, die ich sonst nach einem Abendspaziergang fühle, trägt mich nun durch den ganzen Tag.
Tag fünf. Allmählich kehrt Routine ein – auf eine erfreuliche Art und Weise. Aufstehzweifel und Schlafmangel gehören der Vergangenheit an. Das erlaubt mir, die Vielseitigkeit des wach werdenden Waldes in Fülle zu spüren. Durch sanften Nieselregen steigt der erdige Duft des Waldbodens auf. Rehe und Hasen passieren in weiter Ferne vorsichtig die Waldwege. Singende Vögel veranstalten kurzerhand ein kostenfreies Privat-Konzert. Mein frischgebrühter Kaffee schmeckt ausgezeichnet. Allmählich weiß ich: dieses Experiment soll so schnell nicht zu Ende gehen.
Der vorletzte Tag bricht an und ich werde von meinem Wald-Weckton aus einem schlechten Traum gerissen. Ich höre durch das geöffnete Fenster Regen. Spontane Einschätzung meiner Motivation: Nein! Ich kämpfe also mit mir. Eine kräftezehrende Schlacht. Doch mein Wille siegt, ich streife meine Regenjacke über und bin um 5:30 Uhr an meinem Zielort. Wetterbedingt entscheide ich mich dazu, mein Frühstück nach Hause zu verlagern und schlendere ein wenig über den schlammigen Waldboden. Der Regen nimmt weiter zu und meine Schuhe sind schnell durchnässt. Schweren Herzens entscheide ich mich, schon nach einer Stunde nach Hause zu fahren. Am Ende hat doch der Regen gesiegt.
Und schon bricht der letzte Tag an. Angekommen in meinem zweiten Zuhause, führt kein Weg daran vorbei zu reflektieren. Sofort weiß ich: es war eine lohnende Erfahrung. Ich werde weitermachen – zumindest solange mich keine Vorlesungen um 8 Uhr morgens erwarten. Anstatt in den Morgenstunden sofort von einem Bildschirm angelächelt zu werden, möchte ich lieber erholt und geordnet in den Tag starten – auch wenn ein späterer Spaziergang um 6:30 Uhr dazu ausreichen dürfe.
von Aaron Löffler
Aaron Löffler studiert Politikwissenschaft und Philosophie. Für den ruprecht schreibt er seit dem SoSe 2020. Dabei liegt sein thematischer Schwerpunkt vor allem auf dem politischen und philosophischen Zeitgeschehen - in Heidelberg und der Welt außenrum.
Nicolaus Niebylski studiert Biowissenschaften. Beim ruprecht ist er seit dem Sommersemester 2017 tätig – meist als Fotograf. Er bevorzugt Reportagefotografie und schreibt über Entwicklungen in Gesellschaft, Kunst und Technik. Seit November 2022 leitet er das Ressort Heidelberg. Zuvor war er, beginnend 2019, für die Ressorts Studentisches Leben, PR & Social Media und die Letzte zuständig, die Satireseite des ruprecht.