„Zeig mir deine Beine, Baby komm schon.“ „Wie viel verlangst du pro Stunde?“ – man muss nicht lange auf der App TikTok unterwegs sein, um solche Kommentare zu finden. Sie wirken wie eine billige Anmache auf einer Pornoseite; Fragen, die man einem Cam-Girl stellen würde. „Ich riskiere die Haft…ist mir egal“, lautet ein weiterer Kom-mentar. Denn es handelt sich hierbei nicht um Pornodarstellerinnen. Sondern um Kinder.
Die App TikTok hat sich seit ihren Anfängen im Jahr 2018 zum größten Videoportal im Netz herausgebildet. Täglich wird sie von 800 Millionen Menschen weltweit benutzt und wächst scheinbar unaufhaltsam. Wer die App kennt, kennt auch ihre Probleme: Datenschutzbedenken, Zensur, Mobbing. Und allen voran: Pädophilie.
Die 16-jährige Charli D’Amelio ist mit 70,6 Millionen Followern und fünf Milliarden Likes die bekannteste Nutzerin der App. Ende 2019 begann sie weitreichende Aufmerksamkeit durch Videos zu erhalten, in denen sie zu den aktuell populärsten Liedern der App tanzt. Die Liedtexte sind oft sexuell aufgeladen; die 16-Jährige begleitet sie mit anzüglichen Tänzen und knapper Kleidung. Sie ist der Prototyp für junge Mädchen auf TikTok: Was Charli macht, wird garantiert zum Trend. Ihre Art von Videos sind das, was Unerfahrenen von der App in Erinnerung bleibt und zugleich das, womit TikTok nach außen wirbt. Wer es auf den Kontakt mit Kindern abgesehen hat, wird genau hier zuschlagen.
Cybergrooming ist eine Straftat, die angezeigt werden kann und muss
Laut den Vorschriften der App muss man für eine Registrierung bei TikTok mindestens 18 Jahre alt sein. Mit Einverständnis der Eltern dürfen sich Nutzer auch mit 13 Jahren ein Konto einrichten. Ein Blick auf die populärsten Hashtags und Sounds verrät jedoch, dass diese Regelung nicht strikt verfolgt wird. TikTok ist vor allem bei Kindern zum virtuellen Spielplatz geworden. Schnell findet man Videos, die von Kindern unter zehn Jahren hochgeladen wurden. Ihre Konten sind öffentlich und die Videos frei zugänglich. Die private Nachrichtenfunktion steht ebenfalls jedem offen. Besonders erwachsene Männer mit dem Interesse, junge Mädchen zu kontaktieren, finden hier den perfekten Zugang. Im Februar 2019 wurde ein 35-jähriger Mann in Los Angeles in Haft genommen mit dem Verdacht, auf TikTok sexuelle Unterhaltungen mit 21 jungen Mädchen geführt zu haben. Die jüngsten davon waren neun Jahre alt.
Zwar gibt es die Möglichkeit, ein Profil auf privat zu stellen, allerdings muss man hierfür verstehen, wie die App funktioniert. Anders als bei Ins-tagram bekommen Nutzer auf der TikTok-Startseite nicht Videos von Menschen angezeigt, denen sie folgen.
Die „For You Page” – die persönliche Startseite – nutzt einen Algorithmus, um einem Nutzer anhand seiner geliketen und kommentierten Videos einen endlosen Strom an Inhalten zu zeigen, die von Fremden produziert werden. Somit ist es kinderleicht, viral zu gehen. Man braucht keine Follower – solange man ein #foryoupage unter das Video setzt, wird es mindestens einer Person angezeigt. Das Ziel der App ist damit klar definiert: Ruhm und Aufmerksamkeit. Warum also das Profil privat stellen, wenn so viele Menschen wie möglich das Video sehen sollen? Mädchen wie Charli D’Amelio sollte man nicht dafür verurteilen, wie sie sich präsentieren. Aber sie wissen nicht, welches Publikum sie anziehen. Vielen jüngeren Nutzern fehlt ein Ansprechpartner oder ein Elternteil, der ihre Aktivität auf der App überprüft; sie sehen sich oft gezwungen, unangemessene Kommentare so zu akzeptieren, wie sie sind. Viele realisieren gar nicht erst, was einen unangebrachten Kommentar ausmacht. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass Cybergrooming eine Straftat ist und dass unangemessener Kontakt mit Minderjährigen sofort bei der Polizei gemeldet werden kann und sollte.
Sobald also ein Pädophiler mit dem Video eines Minderjährigen interagiert, kriegt er schnell das nächste angezeigt und immer so weiter. Die Beute wird dem Raubtier förmlich in den Mund gelegt und das, ohne dass die Beute überhaupt weiß, dass sie gefangen werden soll. Für Kinder stellt die App eine weitere Form ver-meintlich harmlosen Entertainments dar. Sie haben meist keine Ahnung, wie groß die Gefahr ist. Im Jahre 2019 wurde ein zehnjähriges britisches Mädchen von der Polizei informiert, sie habe sich in privaten Chats auf TikTok mit einem Pädophilen aus Kanada unterhalten. Machte sie in diesen Chats nicht das, was er ver-langte, drohte er, zu ihr nach Hause zu kommen und sie zu entführen. Er hatte sie kontaktiert, nachdem sie unschuldige Videos auf der App hochgeladen hatte.
Die Betreiber haben keinen genauen Plan, wie sie das Problem lösen können
Mittlerweile warnen viele Schulen vor den Gefahren dieser App und raten Eltern, sich damit zu beschäftigen. Lange Zeit wurde aber propagiert, die App sei nur für Kinder oder junge Teenager, weswegen viele Eltern nicht verstanden, was ihre Kinder dort treiben. Bereits 2019 sah sich TikTok gezwungen, in den USA 5,6 Millionen Dollar in Strafe zu zahlen, da sie für Kinder unter 13 Jahren nicht genügend Schutz boten. Zwar kann man Konten melden, wenn jemand unangemessene Inhalte hochlädt, allerdings geht die App nicht konsequent gegen die kinderfeindlichen Nutzer vor. Liest man die Kommentare unter Videos von minderjährigen Nutzern, erkennt man: Das Problem der Pädophilie ist weit verbreitet.
Liegt es also an den Regierungen, dagegen vorzugehen? Im Jahre 2018 sperrte die indonesische Regierung die App wegen unangemessener Inhalte in Form von Pornographie und Ausbeutung Minderjähriger. Sie erklärte sich erst bereit, die App wieder freizugeben, sobald TikTok negative Inhalte zensierte und mehr Schutz für Minderjährige bot. Auch in Indien sah sich die Regierung 2019 gezwungen, zum Schutz Minderjähriger die App zu sperren, zunächst nur temporär, doch seit Anfang Juli 2020 endgültig. Die Betreiber TikToks antworteten auf die erste Sperrung, sie hätten sechs Millionen Videos mit unangemessenen Inhalten gelöscht. Doch was sind sechs Millionen Videos bei 800 Millionen Nutzern?
In den USA wird ebenfalls seit Kurzem diskutiert, die App zu sperren, allerdings eher aus Datenschutzbedenken. Für die Betreiber der App wäre dies katastrophal. Mit den USA und Indien würden sie zwei der nutzerstärkesten Länder verlieren. Einen genauen Plan, die bestehenden Probleme zu lösen, haben die Betreiber nicht. Momentan bleibt lediglich die Hoffnung, dass sich nicht noch Schlimmeres ereignet.
Es handelt sich bei diesem Problem nicht um Einzelfälle. Die Vorfälle weiter zu ignorieren, bedeutet, Pädophilen freien Lauf zu lassen. Es darf nicht zur Normalität gehören, dass Kinder im Netz genötigt werden, Nacktbilder zu verschicken.
Von Natascha Koch
Natascha Koch studiert Politikwissenschaften und Geschichte und schreibt seit 2019 für den ruprecht. In ihren Artikeln dreht es sich um aktuelle politische und gesellschaftliche Trends und alles, was die Welt bewegt – oder auch nur das Internet. Seit 2020 leitet sie das Ressort für die Seiten 1-3.