Während des Lockdowns sollen 945.000 Frauen in Deutschland Opfer sexueller Gewalt durch ihre eigenen Partner geworden sein – das geht aus einer Studie unter der Leitung von Janina Steinert (TU München) hervor. In der Öffentlichkeit fehlt diese Zahl ganz. Das zuständige Bundesfamilienministerium etwa hat bislang nicht Stellung dazu bezogen. Hierüber sprechen wir mit Horst Röper, Journalist und ehemaliger Leiter des Formatt-Instituts in Dortmund bis zu seinem Ruhestand 2019. Das Institut erforscht seit 1984 die gesamte Zeitungslandschaft in Deutschland.
Am 12. Juli erschien auf der Webseite der Tagesschau ein Artikel zum Thema häusliche Gewalt in der Covid-19-Krise. Wieso fehlt selbst bei einem solchen Leitmedium nach etwas mehr als einem Monat jeglicher Verweis auf die Studie von Steinert und Kollegen?
Um diesen Einzelfall zu klären, müssten Sie die Redaktion fragen. Das kann natürlich viele Gründe haben: Recherchemangel, es ist übersehen worden. Oder man hat die Studie für diesen Artikel nicht als nicht wichtig befunden.
Welche Voraussetzungen findet die heutige journalistische Arbeit dafür, dass so etwas passieren kann?
Die Tagesschau-Redaktion ist gut besetzt. Insofern gilt da sicherlich ein anderes Regelwerk als in vielen anderen Redaktionen. Im Journalismus sind aber in den letzten Jahren die Redaktionen fast überall ausgedünnt worden. Hieraus ergibt sich ein großer Zeitdruck für die verbliebenen Journalisten. Vielleicht hat sich der jeweilige Journalist also schlicht aus Zeitgründen den Blick auf diese größere Studie sogar gespart.
Kann es überhaupt sein, dass Journalisten diese Studie für unwichtig halten?
Ja, sie kann für die konkrete Arbeitssituation des Journalisten im jeweiligen Moment nicht wichtig genug sein. Journalisten bevorzugen bekanntlich kurze und prägnante Darstellungen. Dies gilt auch für die Recherche. Journalisten benötigen Zeit, um große Studien zu bearbeiten. Ist diese Zeit nicht vorhanden, greifen sie eben auf andere Quellen zurück.
Aus der Studie geht hervor, dass 3,6 Prozent der Frauen in Deutschland zwischen 18 und 65 Jahren innerhalb eines Monats von ihrem Partner zum Geschlechtsverkehr genötigt bis vergewaltigt wurden. Dies entspricht 945.000 Frauen. Macht man sich als Journalist heutzutage bei diesem Thema zu einem einstelligen Prozentsatz Gedanken oder geht der einfach unter?
Nein, das letztere kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Diese Zahl ist so ungeheuerlich, dass ich sie nicht aufputschen würde. Das verlangt eine tiefe Aufbereitung. Man müsste sich sehr genau die Studie ansehen: Wie wurde sie durchgeführt? Wie groß ist die Stichprobe? Wer hat die Studie angefertigt? Das ist offenbar bisher unterblieben. Das ist eine der vielen Fehlleistungen des Journalismus. Dies thematisiert jährlich die Initiative Nachrichtenaufklärung. Die Kollegen stellen jedes Jahr die Top 10 der vernachlässigten Themen zusammen. Jahr für Jahr ist erschreckend, was keine Redaktion aufgegriffen hat.
Dieses Thema wurde zwar im Ansatz beschrieben. Wieso aber haben denn die Medien bisher weder das Familienministerium noch die Regierungsparteien um eine Stellungnahme hierzu gebeten?
Das Thema hätte so etwas verlangt. Wir reden aber im Journalismus über ein vielfach geschlossenes System. Eine Zeitung berichtet, andere greifen das Thema auf. Wir hätten wahrscheinlich eine Kaskade im Journalismus erlebt, wenn ein prominentes Medium eingestiegen wäre. Wenn es so wie jetzt abläuft, verschwindet ein solches Thema. Die Politik selbst hält sich bei so einer Schreckensnachricht zunächst einmal heraus. Das ist für mich nicht überraschend.
„Wir müssen viel aktiver mit Fördermaßnahmen in die Medienentwicklung eingreifen“
Die Medien befinden sich in einer widersprüchlichen Situation. Der Bedarf nach Information ist einerseits enorm. Andererseits fallen viele Anzeigenkunden weg. Der Berliner Tagesspiegel erteilt beispielsweise seinen freien Mitarbeitern daher keine Aufträge mehr. In welcher Zwangslage befinden sich die Medien aktuell?
In den Zeitungsverlagen wie dem Tagesspiegel haben wir das vielfach erlebt. Bei den Fixkosten lässt sich kurzfristig kaum sparen, also greift man zu den variablen Posten. Auf der Redaktionsseite sind dies die freien Mitarbeiter. Vor 15 Jahren wären die Auswirkungen der Corona-Krise wohl viel bescheidener gewesen als heute. Den Medien ging es damals wirtschaftlich viel besser. Zum anderen nutzten die jeweiligen Verlagsleitungen die aktuelle Pandemie oft als Begründung für Maßnahmen, die sie schon vorher geplant hatten. Insofern handelt es sich bei der Corona-Krise nicht immer um die eigentliche Ursache.
Was wäre denn aus Ihrer Sicht der beste Weg, um die finanzielle Misere in der Medienlandschaft zu beheben?
Abgesehen von den öffentlich-rechtlichen Medien haben wir einen weitgehend privatwirtschaftlichen Medienbetrieb. Zunächst müssen sich die Unternehmen etwa bei der Digitalisierung besser aufstellen. Bei der Digitalisierung haben wir das Problem, dass der Werbemarkt deutlich weniger abwirft als früher der Printmedienmarkt. Hier muss der Gesetzgeber eingreifen. Im Digitalen besteht aktuell keine Wettbewerbsgleichheit mehr.
Wie kann man hier wieder einen echten Wettbewerb schaffen?
Wir müssen für mehr Chancengleichheit sorgen. Die Europäische Union strebt beispielsweise schon seit langem an, für Steuergleichheit zu sorgen. Amerikanische Konzerne wie Google oder Facebook bedienen sich kräftig im deutschen Werbemarkt. Gleichzeitig entziehen sie sich aber ihrer Steuerpflichten. Inländische Betriebe hingegen müssen ihre Steuer abführen.
Ist dies das Allheilmittel für alle Probleme?
Nein, ich fordere schon seit Jahren: Wir müssen viel aktiver mit Fördermaßnahmen in die Medienentwicklung eingreifen, um eben Vielfalt und einen wirklich gewichtigen Journalismus zu gewährleisten! Das ist in den meisten Ländern der Europäischen Union sogar seit Jahrzehnten der Fall. Wir in Deutschland kennen dieses System eigentlich nicht, wenn man vom ermäßigten Mehrwertsteuersatz absieht. Meine Forderung wurde immer damit konterkariert, dass die Medien dann vom Staat abhängig würden. Das will natürlich keiner. In Ländern wie Österreich, der Schweiz oder Skandinavien laufen entsprechende Modelle schon seit Jahren. Von gelenkten Staatsmedien kann dort keine Rede sein.
Wie kann eine staatliche Förderung konkret aussehen?
Im Bundeshaushalt sind nun 220 Millionen Euro für Medienförderung vorgesehen. Der Bundestag möchte hiermit die Technologieförderung und Digitalisierung vorantreiben. Hierfür werden reguläre Steuereinnahmen im Bundeshaushalt verwendet. Über die Verteilung muss aber ein unabhängiges Gremium statt eines Ministeriums entscheiden, um die Staatsferne unserer Medien weiterhin zu garantieren!
Reichen 220 Millionen Euro überhaupt aus?
Nein, das ist in der Summe sicherlich nicht viel, denn sie wird über vier Jahre verteilt. Wir haben zum Beispiel in Frankreich eine ganz andere Größenordnung: Hier belief sich 2019, je nach Definition, die Medienförderung auf circa 550 Millionen Euro bis 1,8 Milliarden Euro. Ich bin trotzdem froh, dass sich der Bundestag zu diesem Paradigmenwechsel durchgerungen hat. Hier sind aber noch viele Fragen völlig offen, etwa wer die Gelder nach welchen Kriterien vergibt.
Das Gespräch führten Emanuel Farag und Mareike Gaide.
Emanuel Farag hat sein Philosophiestudium unterbrochen. Für den ruprecht schrieb er bereits von 2011-2013 in allen Ressorts. 2012 leitete er das Ressort Hochschule. Seit 2020 publiziert er wieder in seiner Freizeit für den ruprecht und arbeitet ansonsten hauptberuflich im Geschäftskunden-Vertrieb.