Ein Erasmus-Stipendium stellt für viele Studierenden Jahr für Jahr den Höhepunkt ihres Studiums dar. Diesem Traum machte die Corona-Pandemie schlagartig einen Strich durch die Rechnung. Redakteurin Lina Abraham fing die Unsicherheit über die unberechenbare Situation in ihrem Artikel ein.
Mehr als ein halbes Jahr später hat sie es gewagt und sich ins Ungewisse begeben. Zusammen mit ihrem Kommilitonen Lennart Schiek blickt sie nun auf ihre damaligen Bedenken zurück. Gemeinsam reflektieren sie über ihre Erfahrungen und geben einen Einblick in das, was ein Erasmus-Aufenthalt während einer Pandemie mit sich bringt.
Lina
Ein regnerischer Tag Anfang November. Ich sitze mit einem halb ausgetrunkenen Tee in meinem Zimmer. Ein Déjà-vu zu dem Nachmittag vor acht Monaten, als ich gebannt und voller Vorfreude über meinem Motivationsschreiben für meinen Erasmusaufenthalt brütete.
Ich habe mich letztendlich entschieden, mein Erasmus-Jahr trotz einer weltweiten Pandemie anzutreten. Nach einem relativ Corona-freien Sommer befiel mich eine „jetzt oder nie“ -Attitude, die mich alle Bedenken in den Wind schlagen ließ. Mit einem drohenden „Brexit“ im Rücken und dem Wissen, dass die Freigabe eines Impfstoffs noch in weiter Ferne liegt, kam ich zu dem Schluss, dass die Situation sich in absehbarer Zeit nicht verbessern wird.
Lennart
Ähnliche Gedanken begleiteten im Sommer 2020 wohl alle Heidelberger Studierenden, die für das Wintersemester eine Auslands-Zusage erhalten hatten. Auch in England stiegen die Zahlen ab Mitte September wieder rasant. Als ich am 17. September deutschen Boden verließ, war mir nur zu gut bewusst, dass mein Ausflug ins Unbekannte auch sehr schnell wieder vorbei sein könnte. Unvorhersehbar wie die Pandemie selbst war auch das Ausmaß möglicher Einschränkungen, mitsamt ihren Folgen für uns Erasmus-Studierende.
Schließlich kam es, wie es kommen musste. Die traditionelle „Freshers Week“, in der sich an britischen Unis alle Neuankömmlinge kennenlernen, war in vollem Gange, als die nationale Regierung Leeds am 25. September zum Risikogebiet erklärte. Pub-Besuche nach 22 Uhr und Gruppen von mehr als sechs Personen waren fortan nicht mehr möglich. Diese „Rule of Six“ veränderte einiges. Es gab keine organisierten Erasmus-Treffen und aus langen Nächten in den Pubs von Leeds wurden Filmabende und Ausflüge. Die Fallzahlen aber stiegen weiter. Auf immer schärfere Einschränkungen im Laufe des Oktobers folgte Anfang November ein nationaler Lockdown: Zum zweiten Mal in diesem Jahr wurde das Land „heruntergefahren“.
Gleichzeitig hat die Ausnahmesituation jedoch auch einen positiven Effekt: Pläne in die Zukunft zu verschieben, kann man sich schlicht nicht leisten. Selbstverständlichkeiten von heute könnten morgen schon nicht mehr möglich sein. Und so habe ich in meinen ersten Monaten hier wohl mehr erlebt, als es ohne das Virus der Fall gewesen wäre.
Lina
Was soll ich in einem Land, in dem ich niemanden kenne, mit dem ich gegebenenfalls die Quarantäneeinsamkeit verbringen kann? Was bleibt von der Grundidee von Erasmus, wenn der kulturelle Austausch in all seiner Hülle und Fülle fast vollkommen oder auch nur teilweise wegfällt? – Bedenken, die sich letztendlich als unbegründet herausgestellt haben. Gewiss macht es eine weltweite Pandemie nicht einfacher, Freunde zu finden, doch es bleibt möglich. Zweifelslos wäre eine „Pubcrawl“ ohne lokale Einschränkungen entspannter, aber Spaß macht es trotzdem.
Während ich in Heidelberg gestresst über Altklausuren gebrütet hätte, kann ich hier ohne Druck meine (Online)-Seminare verfolgen, mich mit meinen Mitbewohnern über typisch englische Klischees lustig machen und einfach mal abschalten.
Jedoch bewerten nicht alle Erasmus-Studierenden die hiesige Lage ähnlich. Im Lichte der Pandemie verhängte die britische Regierung im Sommer eine zweiwöchige Quarantänepflicht für alle Einreisende aus Risikogebieten. Besonders diejenigen, die sich bereits am Anfang ihres Auslandsaufenthalts in Isolation begeben mussten, trifft der neuerliche Lockdown hart. „Es war schwer, sich mit dem Gedanken anzufreunden, einen Monat in meiner Wohnung verbringen zu müssen, während sich die Lage zu Hause deutlich entspannter gestaltet”, erzählt Erasmus-Student Jorge. Er hat sich letztendlich dazu entschieden, für den vierwöchigen Lockdown zurück nach Spanien zu reisen. Er plant jedoch fest damit, sein Erasmus-Stipendium im Januar fortzusetzen. So wie bei den meisten, sind ihm seine Freunde in den letzten Monaten sehr ans Herz gewachsen.
Lennart
Der Ausblick auf die nächste Zeit bleibt ungewiss. Obwohl die Floskel „Abwarten und Tee trinken“ sich fast schon aufdrängt, beschreibt sie unsere Perspektive derzeit wohl am besten. Eine Lokalzeitung aus Yorkshire sieht eine „einsame Weihnachtszeit“ auf Studierende zukommen, mit acht Mitbewohnern merke ich davon nur wenig. Dennoch: Dieses Privileg wird nicht jedem zuteil und so konzentriert sich die allgemeine Hoffnung auf den 2. Dezember, der das Ende des nationalen Lockdowns markieren soll.
Von Lina Abraham und Lennart Schiek
...hat während der Coronapandemie ihre Liebe zum Schreiben und zum ruprecht entdeckt und war bis zum Ende ihres Studiums in Heidelberg Teil der Redaktion. Sie leitete das Ressort „Seite 1-3“ und erlebte, wie der ruprecht im Jahr 2021 als beste Studierendenzeitung Deutschlands ausgezeichnet wurde. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr eine Recherche über das Unternehmen „Heidelberg Materials“ und dessen Umgang mit Menschenrechten in Togo. Lina ist weiterhin journalistisch aktiv und schreibt für das Onlinemagazin Treffpunkteuropa. Zudem ist sie als Podcast Autorin beim BdV tätig und berichtet über Flucht und Vertreibung in Europa.