Was ich will? Mehr! Ich will mehr Sport treiben, mehr lesen, mehr an mir selbst arbeiten. Und ich will weniger. Weniger Süßes essen, weniger Social Media konsumieren, weniger Selbstzweifel haben. Das dieses Jahr umzusetzen, kann mir nur gut tun und mich zufriedener machen.
So ähnlich können Neujahresvorsätze klingen, die sich auch Studierende jedes Jahr aufs Neue stellen. Gut, oder? Wer sich selbst reflektiert und seiner Ziele bewusst wird, kann eigene Schwächen aufdecken und Raum für persönliche Weiterentwicklung schaffen. Aber gibt es ein Limit? Gibt es einen Punkt, an dem wir uns zurücklehnen, in uns gehen und denken: Ich bin zufrieden. Nicht mit irgendetwas, sondern mit mir. Ich bin wie ich bin und das ist gut so.
Unsere Redaktion hat sich genau diese Frage gestellt: Ist ein Zustand der vollkommenen Selbstzufriedenheit möglich? Sie betrachtet sie aus einer persönlichen, philosophischen, und — mit einem kleinen Augenzwinkern — auch aus einer biologischen Perspektive.
Vollkommenen Dingen bin ich noch nie begegnet
Selbstzufriedenheit steht am Ende eines langen Weges — ist einer meiner ersten Gedanken zu dieser Frage. Ich habe Ziele, die ich in meinem Leben erreichen will und auf die ich kontinuierlich hinarbeite. Angenommen ich komme eines Tages an diesem Ziel an: Ich würde mich freuen, zufrieden sein, und stolz. Aber ist damit die vollkommene Selbstzufriedenheit erreicht oder kommt noch mehr? Und wie ist es auf dem Weg dahin? Kann ich auf ihm zufrieden sein, ohne vollkommene Selbstzufriedenheit zu erreichen?
Um mir diese Fragen zu beantworten, versuche ich erst mal herauszufinden, was Selbstzufriedenheit für mich bedeutet. Ich glaube, mit mir selbst zufrieden bin ich, wenn ich keine Zweifel oder Änderungswünsche mehr habe. In diesem Zustand möchte ich so bleiben wie ich bin. Ich frage mich, ob es Studierende in meinem Umfeld gibt, die das denken? Denn wenn ich darüber nachdenke, was ich an mir ändern würde, fallen mir endlos viele Dinge ein. Manche davon halte ich für unerreichbar, zum Beispiel, wenn ich mir vornehme geduldig zu sein. Daran müsste ich immer arbeiten, in manchen Situationen mehr in anderen weniger – ein Ende gäbe es allerdings nicht.
Hier schließt sich der Kreis und ich bin wieder am Anfang meines Gedankenexperiments: Absolute Selbstzufriedenheit gibt es erst, wenn ich meine Ziele erreicht habe. Und das scheint unmöglich zu sein. Nicht umsonst heißt es: „Die Veränderung ist die einzige Konstante im Leben“ — es geht immer höher, schneller, weiter. Meiner Meinung nach kann man den Zustand der vollkommenen Selbstzufriedenheit nie erreichen. Wirklich vollkommene Dinge sind mir in meinem Leben generell noch nicht begegnet.
Zuletzt fällt mir auf, dass mir diese Lebenseinstellung nicht gefällt. Mein Leben wäre dann ein Hinterherjagen von Zielen — ohne jemals anzukommen. Das bedeutet aber nicht, dass ich die ganze Zeit unzufrieden und unglücklich bin, denn Selbstzufriedenheit ist nicht gleich Glücklichsein. Für mich ist der Weg zu meinen Zielen nicht anstrengend und trist. Im Gegenteil: Ich kann währenddessen glücklich sein, Spaß haben und Dinge, die ich schon erreicht habe, wertschätzen. Damit komme ich dem Gefühl der Selbstzufriedenheit schon sehr nahe. Dazu kommt, dass ich an meinen Aufgaben wachse, was mich ebenfalls bereichert. Vielleicht sogar mehr als Selbstzufriedenheit es könnte.
von Michelle Sieburg
Die goldene Mitte — Lustrausch und Besonnenheit
Zufrieden sein. Ist das überhaupt möglich? Philosophen der griechischen Antike sind sich weitestgehend einig: Ja, dieser Zustand ist erreichbar. Die Unterschiede zwischen ihnen bestehen darin, wie der Mensch an dieses Ziel gelangt — und könnten kaum größer sein.
In der Ruhe liegt die Kraft – oder die Glückseligkeit.
Aristoteles spricht von der Eudämonie, wenn er über das höchste und umfassende Ziel des menschlichen Handelns schreibt. Am ehesten ist sie als Glückseligkeit oder eben als Zufriedenheit zu verstehen.
Die Eudämonie ist für Aristoteles ein Selbstzweck: Der Mensch verfolgt sie um ihretwillen und kennt keine nach- oder übergeordneten Ziele. Für Aristoteles ist das menschliche Leben aber kein hoffnungsloses Streben nach dieser Glückseligkeit. Der Mensch kann diesen höchsten Seelenzustand durchaus erreichen. Aber wie? Durch die berühmte goldene Mitte. Indem der Mensch ein Leben führt, das durch besonnene und überlegte Entscheidungen geprägt ist: Anstatt intolerant oder ignorant zu sein, soll er sich selbst und anderen gegenüber tolerant sein. Er soll nicht in Selbstzweifeln versinken oder sich maßlos überschätzen, sondern selbstbewusst handeln.
Für Aristoteles ist klar: Die Glückseligkeit ist erreichbar, wenn der Mensch ein vernünftiges, maßvolles Leben führt. Es genügt aber nicht, ein-, zwei- oder dreimal tugendhaft zu sein. Vielmehr muss das überlegte und tugendhafte Verhalten zu einer Gewohnheit werden. Erst dann kann der Mensch guten Gewissens zufrieden mit sich selbst sein.
Lust maximieren, Schmerz minimieren
Aristippos von Kyrenes Motto auf dem Weg zur Zufriedenheit lautete hingegen wie folgt: „Maximiere die Lust, minimiere den Schmerz.“ Los ihr Menschen, führt ein möglichst lustvolles Leben! In Ordnung, was ist aber Lust? Sie ist für Aristippos eine Empfindung des Körpers, die in einer Regung der Seele mündet. Die Lust ist ein kurzweiliger, angenehmer Zustand des Menschen – nicht aber so anhaltend wie die aristotelische Glückseligkeit.
Und wie erzeugt der Mensch diese Lust? Sie kann durch verschiedenste Handlungen hervorgerufen werden. Hauptsache sie führen zur Lust. Ob das Trinken eines vorzüglichen Latte Macchiatos oder eine intensive Boulder-Session, alles ist denkbar. Nur sollten die Handlungen nicht durch Empfindungen wie Neid und Hass geprägt sein. Solche Geisteshaltungen führen für Aristippos zu Schmerz und stehen damit der Lust im Wege.
Ist das lustvolle Leben aber auch ein zufriedenes Leben? Ja und nein. Versteht man Zufriedenheit als die dauerhafte und allumfassende Anwesenheit von Lust, muss Aristippos passen. Es ist nahezu unmöglich Lustempfindungen pausenlos aneinanderzureihen, ohne dass sie durch Leere oder gar Schmerz unterbrochen werden. Erkennt man den Schmerz aber zumindest als unausweichlichen Bestandteil des menschlichen Lebens an, ist die Zufriedenheit auch laut Aristippos greifbar.
von Aaron Löffler
Zwischen Menschlichkeit und Bestialität
Durchs verschneite Moskau irrt ein kokainsüchtiger Student. Im Rausch kommen ihm die höchsten Gefühle von Sanftmut und Geborgenheit, danach fällt er in die tiefsten Abgründe von Depression und Menschenhass. Er beginnt zu überlegen: Bedingen diese Extreme einander? Gleicht die menschliche Verfassung “einer Schaukel, der, wenn sie in Richtung Menschlichkeit angestoßen wird, vorherbestimmt ist, anschließend in Richtung Bestialität auszuschwingen?” Kurze Zeit später stirbt er im Rausch.
Wadim Maslennikow aus „Roman mit Kokain“ ist fiktiv, aber sein Problem ist echt. Er fragt nach dem Dualismus von Glück und Unglück. Sitzen wir auf einer Schaukel?
Im Westen hat der Mensch das Verlangen, wieder profunder zu erleben. Er bedient damit nichts anderes als eine Ökonomie des Empfindens: Das heimische Bett ist erst dann wieder gemütlich, wenn man davor im Biwak gepennt hat. Deswegen machen Manager Urlaub in Patagonien. Und mit dem Lebenslauf in der Leistungsgesellschaft kann sich abfinden, wer da war, wo die sozialen Ungleichheiten so gravierend sind, dass sie jede Chance auf ein gutes Leben im Keim ersticken. Deswegen lassen unsere Eltern uns nach dem Abi ins Ausland.
Und all das ist nicht mal verwerflich, denn es ist ein Problem. Als wir anfingen, den Wert des Einzelnen anzuerkennen — in der Geburtsstunde des modernen Menschen — da fingen wir an, unser Unglück individuell zu erleben. War das ein Fehler? Anderswo, in der globalen Peripherie, haben sie viel weniger und trotzdem “sind da alle so mega happy”. Wer seinen Lebensstandard mit seinem Wohlbefinden vergleicht, der merkt, dass unser Entwicklungsstand scheinbar dazu führt, dass wir Unglück nur bewusster erleben. Wer sich zu intensiv an den Wunden seiner Existenz reibt, entwickelt eine Vorstellung, die den Fortschritt denunziert.
Diese Sichtweise führt in eine fatale Apokalyptik: wenn das Unwohl, das in westlichen Gesellschaften erlebt wird, durch deren Fortschritt bedingt ist, muss er dann nicht wieder rückgängig gemacht werden, damit wir alle wieder glücklich und bewusstlos sein können? Dieser simple Antimodernismus heißt ausformuliert Faschismus, fatalster Irrtum der Menschheit.
Akzeptieren wir also die Situation, in der wir uns befinden. Es ist besser geworden, wenn wir unglücklich sind, dann auf hohem Niveau. Das Bedürfnis erlangt ontologischen Status: Es ist immer da, es wird immer da sein, es gibt kein Rückwärts.
Natürlich, mag man jetzt einwenden, hat jeder schon mal den Menschen getroffen, der glaubhaft versicherte, absolut zufrieden zu sein. Diese Aussage verursacht nur den kleinen Kollateralschaden des Zynismusverdachts: denn selbst wer mit den persönlichen Lebensumständen völlig glücklich ist, kann kaum damit zufrieden sein, dass in Syrien und anderswo Menschen gefoltert und ermordet werden. Vielleicht wäre eher die Frage: Wie leben wir damit, dass wir niemals gänzlich zufrieden sein können? Wie leben wir damit, dass sich unsere Bedürfnisse einfach mit uns wachsen und schrumpfen? Vielleicht klettern wir eher eine Leiter hoch. Eine endlose Leiter zwar, aber die Aussicht wird immer weiter.
von Clemens Pittrof
Evolutionsbiologisch? Lieber nicht.
Bin ich vollkommen zufrieden mit mir selbst, ist mein persönliches Glück nicht mehr von anderen abhängig. Das hört sich doch recht verführerisch an. Aber was würde diese Unabhängigkeit aus evolutionsbiologischer Perspektive bedeuten? Wie könnte es einzelnen Menschen oder Gesellschaften ergangen sein, die sich in vollkommener Selbstzufriedenheit gewogen haben? Angenommen es gäbe eine genetische Veranlagung für Selbstzufriedenheit, würde sie sich in der Evolution durchsetzen? Oder wäre so ein „Selbstzufriedenheit-Gen“ gar nicht von Vorteil in einer Welt, in der nur der und die Angepassteste überlebt?
Gene bleiben erhalten, wenn sie von Vorteil oder zumindest nicht von Nachteil für das Überleben und die Fortpflanzung sind. Vollkommene Selbstzufriedenheit schafft auf den ersten Blick einen klaren Vorteil für mich: Frei vom inneren Antrieb mich ständig verbessern zu müssen, bin ich entspannter und ruhiger, stressfrei und dadurch gesünder.
Gleichzeitig verändert sich jedoch mein Umgang mit anderen Menschen. Ich bin weniger kompromissbereit, möchte weder mich noch mein Verhalten an die Bedürfnisse meiner Mitmenschen anpassen und bewahre mir meine Unabhängigkeit.
Aber wie sieht es dann mit der Fortpflanzung aus? Wer hält es denn schon lange mit einem kompromisslosen und selbstüberzeugten Partner aus und denkt gar an Nachwuchs? Ich führe zwar ein entspanntes Leben – aber in der Evolution stirbt mein Selbstzufriedenheit-Gen mit mir aus.
Aber mal angenommen, irgendwer hätte es doch mit mir ausgehalten, mein Gen hätte sich in der Gemeinschaft durchgesetzt und wir wären alle völlig selbstzufriedene Menschen. Wie würden wir uns verhalten?
Natürlich würden wir wieder keine Notwendigkeit darin sehen, unsere Bedürfnisse und Handlungsweisen anzupassen. Wir würden sich verändernde äußere Umstände einfach ignorieren. Auch wenn es deutliche Hinweise darauf gäbe, dass unser Verhalten nicht nachhaltig, nein, sogar selbstzerstörerisch ist, würden wir nicht reagieren. Wieso auch? Zurzeit ist ja noch alles gut. Alle sind zufrieden. Kommt einem irgendwie bekannt vor, oder?
Das Selbstzufriedenheit-Gen kann sich also erneut nicht durchsetzen, denn letztlich impliziert das Erreichen von vollkommener Selbstzufriedenheit das Erreichen von Statik. In einer sich veränderten Welt überlebt aber nicht die Kontinuität, sondern die Anpassung. Vielleicht sollten wir uns das mal zu Herzen nehmen, mal so ganz evolutionsbiologisch gesehen.
von Zarah Janda
Aaron Löffler studiert Politikwissenschaft und Philosophie. Für den ruprecht schreibt er seit dem SoSe 2020. Dabei liegt sein thematischer Schwerpunkt vor allem auf dem politischen und philosophischen Zeitgeschehen - in Heidelberg und der Welt außenrum.
Michelle Sieburg studiert Jura mit Schwerpunkt im Völkerrecht und schreibt seit dem Wintersemester 2020 für den ruprecht. Besonders gerne befasst sie sich mit aktuellen Ereignisses aus der ganzen Welt und gesellschaftskritischen Fragen.
Zarah Janda studiert Molecular and Cellular Biology und ist seit dem Wintersemester 2020/21 beim ruprecht dabei. Am liebsten schreibt sie über Wissenschaft im Alltag.