Am 22. Oktober 2020 hat das Verfassungsgericht in Polen das geltende Abtreibungsgesetz für verfassungswidrig erklärt. In kürzester Zeit sammelten sich hunderte Menschen vor dem Gericht, um gegen das Urteil zu demonstrieren. Hauptsächlich Frauen nahmen am anschließenden Protestzug teil, der fast 10 Kilometer weit durch die Stadt zog. Wegen der Corona-Pandemie gilt in Polen ein allgemeines Versammlungsverbot. Trotzdem wurde nach dem 20. Oktober täglich in insgesamt mehr als 100 Städten des Landes protestiert, selbst in den konservativen und katholisch geprägten Kleinstädten. Bis Dezember fanden die Demonstrationen täglich statt, auch jetzt geht der Protest weiter, wenn auch etwas gemäßigter.
Schon vor dem Urteil war das Abtreibungsgesetz in Polen sehr streng: Abtreibung war nur nach Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Mutter und bei einer schwerer Schädigung des Fötus erlaubt. Mit dem neuen Urteil wird das letzte Kriterium für rechtswidrig erklärt, das der Grund für fast alle legalen Abtreibungen im Jahr 2019 war. Damit herrscht in Polen jetzt faktisch ein Abtreibungsverbot.
Die Aktivistin Dagmara Adamiak war das Gesicht der ersten Proteste und in internationalen Tageszeitungen zu sehen. Sie hat gerade ihr Jurastudium abgeschlossen und organisiert die Proteste in Stettin: „Ich protestiere, weil die Regierung Polens weder Frauenrechte noch Menschenrechte respektiert. Unser Abtreibungsgesetz ist das schlimmste Europas. Ich möchte selbst über meinen Körper und mein Leben entscheiden, ich möchte selbst entscheiden, ob ich stark genug bin, ein Kind zu bekommen.“
Schon am 23. September 2016 gab es den ersten Versuch, das Abtreibungsverbot zu verschärfen: Die Bürgerbewegung „Stop Aborcji“ („Stopp der Abtreibungen“) legte einen Gesetzesentwurf vor, der Abtreibungen nur erlaubte, wenn sich die Schwangere in Lebensgefahr befand. Außerdem sah er eine mehrjährige Haftstrafe für Frauen, Ärztinnen und Ärzte bei einer Abtreibung vor. Im Sejm, dem Unterhaus des polnischen Parlaments, stimmte mit 267 Abgeordneten eine Mehrheit für den Vorschlag, darunter auch viele Anhänger der PiS-Partei. Sie ist zurzeit Polens Regierungspartei und gilt als nationalkonservativ und stark christlich.
Die geplante Verschärfung löste eine Welle des Protests aus: In den Tagen nach der Abstimmung entstand der Czarny Protest (deutsch: „Schwarzer Protest“), bei dem Personen in schwarzer Kleidung protestierten. In ganz Polen gingen tausende Menschen auf die Straße und solidarisierten sich im Internet.
Auch Martha, eine Studentin aus Heidelberg, nahm am „Schwarzen Protest“ teil: „Der Kampf gegen eine Verschärfung der Gesetze zur Abtreibung begann im Jahr 2016 mit dem Czarny Protest und dann habe ich zum ersten Mal für Frauenrechte demonstriert. Viele Leute haben sich engagiert und ich fühlte, dass wir etwas ändern konnten. Jetzt fühle ich mich einfach traurig und machtlos, weil ein Grundrecht von Frauen angegriffen wurde. Leider bin ich nicht überrascht, dass die PiS-Partei uns unsere Rechte nimmt.“
Vor fünf Jahren hatten die Frauen mit ihren Protesten Erfolg: Der Gesetzesvorschlag wurde nach zweiter Lesung mit einer großen Mehrheit abgelehnt. Nun versucht die nationalpopulistische PiS, das Abtreibungsgesetz über das Verfassungsgericht zu ändern. Fast alle Juristen im Verfassungsgericht wurden von der PiS gewählt und werden von der katholischen Kirche unterstützt. Deswegen richten sich die Proteste nicht mehr primär gegen das Urteil, sondern zunehmend gegen die Regierung allgemein.
Dagmara sieht die Lage pessimistisch: „Ich habe die Hoffnung verloren, dass sie auf uns hören. Aber wir müssen trotzdem kämpfen. Ich freue mich sehr für die Frauen in Argentinien, aber bin auch neidisch. Ich glaube daran, dass auch polnische Frauen eines Tages ihren Sieg feiern können.“
Nach jahrelangen politischen Diskussionen wurden Schwangerschaftsabbrüche am 30.12.2020 in Argentinien mit einem neuen Gesetz entkriminalisiert. Im Gegensatz dazu trat am 28. Januar 2021 das polnische Urteil offiziell in Kraft. Am Abend der Veröffentlichung bildeten sich spontane Protestzüge, die an die Demonstrationen der letzten drei Monate anknüpften. Die Katholische Kirche begrüßte die Entscheidung des Gerichts.
...studiert Geschichte und Germanistik und ist seit 2020 beim ruprecht aktiv. Nach der Leitung der Ressorts Studentisches Leben und Weltweit interessiert sie sich inzwischen vor allem für das Layout.