Daniel Al-Kayal strahlt Heidelberg seit einem guten Monat an jeder Straßenecke an. Selbst auf YouTube platzt er kurz vor dem ein oder anderen Video mit einer zweiminütigen Werbung rein. „Radikal vernünftig“ sein Slogan. Seine Forderungen: soziale Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, demokratischer Sozialismus. Er ist der erste in seiner Familie, der sich für Politik begeistert. Und nun sitzt er vielleicht bald im baden-württembergischen Landtag.
Daniel schiebt sein Fahrrad vor sich hin, während wir zum Neckar laufen. Auf dem Weg dorthin sehen wir sein Gesicht an drei verschiedenen Ecken. Befremdlich? „Ja, sehr“, sagt er. „Aber da war wenigstens die Frisur noch besser.“ Er wirkt locker, gelassen. Auf einer Bank an der Neckarwiese setzen wir uns, die ersten Sonnenstrahlen im Februar genießend.
„Radikal vernünftig“ ist Daniels Plädoyer für die bevorstehenden Landtagswahlen. Er ist Direktkandidat der SPD für den Wahlkreis Heidelberg. Dort ist er bereits seit sieben Jahren Mitglied. Der 26-Jährige ist vor allem einem wachsenden Trend zugehörig: Studierende in der Politik. Zurzeit studiert er im Master Politikwissenschaft und belegt neben dem Wahlkampf noch Uni-Seminare. Damit ist er nicht alleine. In Heidelberg treten dieses Jahr neben ihm zwei weitere Studierende als Direktkandidat*innen an: Benjamin Brandstetter von der FDP und Chantal Graßelt von Volt.
Daniel sieht sich nicht in der Hauptrolle seines Wahlkampfes, so antithetisch das klingen mag. „Mein Amt ist ein Instrument und ein Werkzeug dafür, wie ich Demokratie verstehe“, sagt er. „Es ist eine politische Vertretung; dass Studierende sich selbst vertreten durch andere Studierende.“ Von der Erfahrung unterschiedlicher Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen würde die Politik profitieren: „Leute, die in den Siebzigern oder Achtzigern studiert haben, kennen sich vielleicht mit dem heutigen Studium nicht so gut aus“, sagt er. „Aber ich habe zum Beispiel keine Ahnung, wie es ist, im Altersheim zu arbeiten. Diese Erfahrung bringen wiederum andere Leute.“
Politische Anfänge in Rio Grande do Sul
Daniel ist in Stuttgart geboren, aber verbrachte die erste und zweite Klasse in Brasilien, als seine Familie wegen der Arbeit seines Vaters dorthin zog. Er spricht fließend Portugiesisch und sein Vater wohnt noch immer in Brasilien. Den Rest seiner Kindheit und Jugend wurde er von seiner alleinerziehenden Mutter in Stuttgart großgezogen.
Nach dem Abitur zog es Daniel ein weiteres Mal nach Brasilien. „Ich hatte in meiner Kindheit immer so ein bisschen das Gefühl, man wohnt in einem Kleineuropa“, sagt er. „Ich habe mir die Frage gestellt: Wie viel weiß ich wirklich über dieses Land?“ In seiner Gegend hätten nur weiße, wohlhabende Menschen gelebt, er selbst war auf einer deutschsprachigen Schule – die andere Seite von Brasilien habe er in dieser Zeit kaum zu Gesicht bekommen.
Wie viele andere Abiturient*innen absolvierte er ein Freiwilliges Soziales Jahr mit der Organisation Weltwärts. Hier habe er auch die Entscheidung gefällt, in die Politik zu gehen: „Man sieht, welche Konsequenzen Sachen, die wir in Deutschland machen, in diesen Ländern haben“, sagt er. Der Kontakt mit den Menschen habe klargemacht, dass sich auch in Deutschland an vielen Stellen noch die Perspektive ändern muss: „Wenn man solche Erfahrungen mitträgt, beschließt man zum Beispiel vielleicht nicht, Pestizide, die in Deutschland verboten sind, in Brasilien auf den Markt zu bringen.“
Für Daniel war klar: Er sucht eine Partei links der bürgerlichen Mitte. Bei den Grünen würde zwar viel Soziales im Programm stehen, dies würde aber meist nicht umgesetzt werden; bei den Linken gingen manche Sachen zu sehr an der Realität vorbei. In der SPD stünde man dagegen für einen demokratischen Sozialismus, das sei für ihn vereinbar mit seinen Werten. Gleichzeitig sei der Bedarf für sozialdemokratische Politik so hoch wie noch nie: „Es heißt immer, konservative und liberale Politik ist wirtschaftsnah“, sagt er. „Ich sehe nicht, wie das bei den Corona-Hilfen wirtschaftsnah ist. Ich sehe bei der Wirtschaftspolitik nicht, wie das wirtschaftlich helfen soll.“
„Selbstkritik ist Luft und Lebenslicht der linken Arbeiterbewegung“
Seine Aufgabe sei es, als Teil einer größeren progressiven linken Bewegung, die SPD „auf Linie zu bringen“. „In Deutschland wird es nicht möglich sein, eine progressive linke Mehrheit zu bilden ohne die SPD“, sagt er. Ob Heidelberg aber eine progressive linke Mehrheit möchte oder gar braucht? „Wollen’s die Menschen?“, sagt er. „Weiß ich nicht. Brauchen’s die Menschen? Auf jeden Fall.“
Ausschließen kann man zu diesem Zeitpunkt nichts. Auch bei der letzten Landtagswahl 2016 zeigten die Prognosen ein ganz anderes Ergebnis als die eigentlichen Wahlen. Allerdings lassen bisherige Umfragen auf eine eindeutige Tendenz zu einer weiteren grün-schwarzen Koalition schließen. Die SPD würde diesen Werten zufolge ein knappes Rennen mit der AfD um die Rolle der stärkste Opposition machen.
Für Daniels Politik sei das aber nicht zentral: „Vor zwanzig Jahren standen wir vielleicht mit den Wahlergebnissen besser da“, sagt er. „Aber vor zwanzig Jahren haben wir eine Politik gemacht, die ich für falsch halte.“ Er weist dabei auf die Agenda 2010 oder den Kosovokrieg hin. Gerade in seiner Arbeit als Juso habe er gelernt, Veränderung anzustoßen, sich für das einzusetzen, was er verändern möchte. Politik sei nicht in Stein gemeißelt, man könne vieles von innen verändern, solange man kritisch bleibe.
Daniel selbst habe keine Hemmungen, Kritik an Leuten aus den eigenen Reihen zu üben – im Gegenteil sei das für ihn zentral. Links sein hieße auch kritisch sein, sagt er und zitiert Rosa Luxemburg: „Selbstkritik ist Luft und Lebenslicht der linken Arbeiterbewegung.“ Auf die Frage, was er aktuell an der SPD zu kritisieren hätte, nennt er nichts. Er ist lediglich „gottfroh, dass unser Vizekanzler Scholz ist und nicht Christian Lindner.“
Sein Wahlprogramm ist breit aufgefächert. Klimaschutz und Mobilität stehen ganz oben auf seiner Liste. 2019 war er Co-Autor des Buches „Ihr habt keinen Plan, darum machen wir einen!“, das Forderungen für eine klimagerechte Zukunft aufstellt. Auch Hochschulthemen sind ihm wichtig. Er fordert die Abschaffung aller Studiengebühren und bessere Verträge für Mitarbeitende an Universitäten. Alles Soziale ist ihm ein Herzensthema. Und für seine Themen brennt er, das wird sehr schnell klar. „Niemand wäre sauer, wenn man einfach sehen würde, dass die Politik arbeitet“, sagt er.
Wut und Twitter mischen sich nicht gut
Für viele Stimmen von der politischen Gegenseite steht Daniel allerdings noch in Verbindung mit einem ganz bestimmten Zwischenfall: als er sich Anfang Februar damit solidarisiert hat, Vermieter zu erschießen. Oder so ähnlich. Kursiert hat, so Daniel, nur die halbe Geschichte – als Screenshots eines Tweets, in dem Daniel „#SolidaritaetmitBengt“ forderte. Bengt Rüstemeier ist ein Juso-Mitglied aus Berlin, dessen provokante, teils gewaltverherrlichende Tweets große mediale Aufmerksamkeit erfahren haben, besonders von Medien der Springer Presse. Der berüchtigtste Tweet spricht davon, „Vermieterschweine persönlich zu ershooten“.
Dass es nicht gut aussieht, sich mit so jemanden zu solidarisieren, sei Daniel klar. Er reagiert recht nüchtern auf das Thema, denn er gesteht seinen Fehler ein. Es wäre aber bei #SolidaritaetmitBengt gar nicht darum gegangen, dass Daniel Bengts ideologische Ansichten teilt, sondern eher um den Umgang der Presse mit dem Thema: „Das war ein zwanzigjähriger Junge aus Berlin, der was Dummes getwittert hat, womit ich mich überhaupt nicht gemein machen will“, sagt er. „Aber ich habe gesehen, dass eines der größten Medienhäuser so auf den einhaut, um wahrscheinlich der SPD in Berlin zu schaden. Er ist das Bauernopfer.“
Das habe auch Daniel in den darauffolgenden Tweets erklärt, allerdings sei der erste Tweet ohne Kontext von einem Jungen Liberalen verbreitet worden. Nach zehn Minuten habe er bereits den ersten Tweet gelöscht, als er seine emotionale Reaktion ein wenig verarbeitet hätte. Die weiteren Tweets, die die Situation erklären, sind immer noch auf seinem Profil einsehbar. „Ich habe wütend getweetet, das ist immer eine dumme Idee“, sagt Daniel. „Es wurde hochgekocht und mit Absicht falsch verstanden. Das ist eben Wahlkampf, mein Stil wäre das eher nicht.“ Die Welt habe zumindest nach dem Aufruhr auf sozialen Medien weite Teile ihrer Artikel, in denen Bengt Rüstemeiers persönliche Daten veröffentlicht wurden, zurückgenommen. „Dann war ja meine Wut auch sicher ein Stück weit gerechtfertigt“, sagt Daniel.
Von politischen Erfolgen und einer Zukunft im Landtag
Fast schon eine Stunde haben wir nun geredet. Daniel erzählt mit Leidenschaft; gerade im direkten Gespräch scheint er aufzugehen. Der Corona-Wahlkampf müsse ihm doch viel genommen haben, oder nicht? „Wahlkampf ist ja da, um Öffentlichkeit zu mobilisieren, zu informieren, und mit der Öffentlichkeit umzugehen“, sagt er. „Alle Corona-Maßnahmen zielen aber darauf ab, keine Öffentlichkeit zu haben.“ Aber? „Ich kenn’s nicht anders“, sagt er und lacht. Der Kontakt mit Menschen fehle ihm deswegen nicht. Und der Zuspruch erst recht. Erst vor kurzem habe ihn eine junge Frau angerufen, die erzählte, sie würde wegen ihm zum ersten Mal die SPD wählen: „Sowas macht natürlich mega happy“, sagt er.
Und in der Zukunft? Nun, erstmal die Landtagswahlen. Aber danach ist Daniel auch ganz gelassen – locker, wie sonst. „Lass das Leben mich mitnehmen“, das sei ein brasilianisches Zitat, welches seinen Ansatz für die nächste Zeit ganz gut treffe. „Ich weiß nicht, was mein Weg sein wird“, sagt er. Die Uni abschließen, seinen Master kriegen, das sei wichtig. Und sonst? Mal schauen. So viel Freiheit sollte man sich ja doch für die Zukunft lassen dürfen.
Von Natascha Koch
Natascha Koch studiert Politikwissenschaften und Geschichte und schreibt seit 2019 für den ruprecht. In ihren Artikeln dreht es sich um aktuelle politische und gesellschaftliche Trends und alles, was die Welt bewegt – oder auch nur das Internet. Seit 2020 leitet sie das Ressort für die Seiten 1-3.