Der Mann mit der labbrigen Zigarette zwischen den Fingern wirkt desorientiert. Er schlurft ein paar Schritte auf den Stand zu und fragt: „Welcher Partei gehören sie an? Ich kann ihnen fünf von meinen 28 Stimmen anbieten.“ Chantal bleibt regungslos hinter dem Stand stehen und antwortet nicht. Die FFP-2 Maske versteckt ihren Gesichtsausdruck. Der Mann stolpert vom Stand weg und ruft: „Ich bin genau wie der 1.FC Köln: immer noch unentschieden.“
Die Straßenlaternen, Bäume und Litfaßsäulen in Heidelberg sind mit Wahlplakaten gespickt. Am 14. März wählt Baden-Württemberg einen neuen Landtag. Chantal Graßelt ist Spitzenkandidatin der proeuropäischen Partei VOLT. Die Partei wurde 2017 gegründet und existiert in allen Staaten der Europäischen Union. Sie will nationale Probleme europäisch lösen. Chantal ist 23 Jahre alt und studiert politische Ökonomik und Philosophie. An einem bewölkten Mittwoch verteilt sie Flyer auf dem Bismarckplatz. Fußgänger, die von der langen Einkaufsstraße in der Altstadt zur Straßenbahn wollen, müssen an ihr vorbei. Viele Menschen sind das nicht. Es ist Vormittag und die Geschäfte haben wegen der Kontaktbeschränkungen geschlossen.
Chantal streckt einem älteren Ehepaar ihre Flyer entgegen. Das Ehepaar reagiert nicht sofort. Sie hat sich schon abgewendet, als es doch noch nachfragt. Chantals Kollege Andreas springt ein und verwickelt das Ehepaar in ein Gespräch über VOLT und die Wahl.
Andreas ist Anfang vierzig und Unternehmensberater. Für den Wahlkampf investiert er 40 Stunden in der Woche. Wenn er spricht, fallen Sätze wie: „Es ist unsere demokratische Pflicht, den Menschen zu sagen, dass es VOLT gibt.“ Oder: „Menschen sollten Politik produzieren und nicht konsumieren“. 2019 trat Andreas für die Wählervereinigung „Heidelberg in Bewegung“ bei den Gemeinderatswahlen an.
Chantal steht hinter dem Stand und macht Wahlkampf auf ihrem Smartphone. „Digital kann man sehr viele Menschen erreichen“, sagt sie. Auf Reddit beantwortet sie Fragen in einer Lokalgruppe. Die erste Frage: „Warum wirft VOLT Wahlwerbung in Briefkästen mit ‚Keine Werbung‘ – Aufklebern?“ Andreas empfiehlt Chantal, die Frage zu ignorieren.
Chantal erzählt, dass sie mittlerweile auf der Straße erkannt und angesprochen wird. Die Leute kennen sie von den Wahlplakaten. Wenn sie spazieren gehen will, sucht sie sich ruhigere Routen mit weniger Menschen und weniger Plakaten. Sie ist kein großer Fan der sozialen Netzwerke: „Sich auf Instagram zu präsentieren, war eine Überwindung für mich“, sagt sie. Für die Landtagswahl postet sie nicht auf ihrem eigenen Account, das übernimmt die Ortsgruppe in Heidelberg. Wahlkampf ist für sie Neuland: Plakatieren, Videos drehen, in der Fußgängerzone Menschen ansprechen, das macht sie alles zum ersten Mal. „Ich bin noch lange kein Profi“, sagt sie.
Ein junger Mann kommt auf Chantal zu und fragt etwas skeptisch nach der Partei. Er hat noch nichts von VOLT gehört und will wissen, ob sie links oder rechts stehen. Chantal beantwortet ruhig seine Fragen. VOLT will sich nicht links oder rechts einordnen. Inhaltlicher Kern des Programms ist die Europäische Union. Die Partei fordert, dass EU-Bürger, die in Baden-Württemberg wohnen, bei den Landtagswahlen mit abstimmen können. VOLT fordert außerdem die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels durch das vollständige Ausgleichen von Treibhausgasemissionen bis 2035. Der Wahlslogan für die Landtagswahl lautet: „Europäisch denken – lokal handeln“. Chantal hatte die Idee dazu, als sie die Präambel des Wahlprogramms schrieb. Am Ende nimmt der Student einen Flyer mit.
Chantal ist Kandidatin und Studentin gleichzeitig. Für die Wahl musste sie Klausuren verschieben und weit im Voraus darauf lernen. „Es ist schwer die beiden Bereiche voneinander zu trennen“, meint Chantal. Wenn auf ihrem Handy mehrere Anfragen auf sie warten, fühle sich das wichtiger an, als zu lernen.
Im Studium hat Chantal auch VOLT kennengelernt. In einem Seminar über den Philosophen Jürgen Habermas erzählte die Dozentin von VOLT. Das war nach den Europawahlen 2019. Die Partei knackte damals in einigen Wahlbezirken Heidelbergs die Fünf-Prozent-Marke. Von den großen Parteien fühlte sich Chantal nicht repräsentiert und wollte sich engagieren. Sie glaubte nicht, in großen Parteien viel verändern zu können. Nach dem Seminar entschied sie sich für VOLT.
Als sie gefragt wurde, ob sie für den Landtag kandidieren wolle, war sie nicht sicher, ob ihre Zeit dafür reicht. Doch sie sah das Potenzial aus der Europawahl. Sie wollte verhindern, dass die Partei ohne Kandidat:in antritt und ging dafür aus ihrer Komfortzone. „Wenn man politisch aktiv sein will, muss man das irgendwann machen“, sagt Chantal.
Die Fünf-Prozent-Hürde liegt in weiter Ferne, aber Chantal glaubt, dass die Partei wachsen wird. Dafür müsse sie bekannter werden. „Wenn wir Aufmerksamkeit generieren wollen, dann müssen wir das jetzt machen“, sagt sie. Jedes weitere Mitglied sei wichtig. Auch wenn VOLT nicht in den Landtag einziehe, wäre zumindest ein Prozent der Stimmenanteile ein Erfolg. Ab dieser Marke erhalten Parteien Geld von der staatlichen Parteienfinanzierung. Mit Blick auf den Wahlkampf für die Bundestagswahl ein entscheidender Faktor.
Nach dem Flyerverteilen will Chantal die weiteren Fragen auf Reddit beantworten und nebenher noch einer Telefonkonferenz zuhören. Ein paar Tage später ist Wahltag. Danach müssen sie und ihre Mitwahlkämpfer:innen die Plakate abhängen. In einem halben Jahr wartet die Bundestagswahl. Chantal will in dieser Zeit ihre Bachelorarbeit schreiben. Die Mehrfachbelastung bleibt, aber sie will sich nicht erst dann engagieren, wenn das Studium wegfällt. „Wenn wir ewig weiter warten, kann es sein, dass VOLT untergeht.“
von Thomas Degkwitz
Thomas Degkwitz will seit 2019 die Netzwerke der Stadt verstehen. Das hat er für zwei Jahre auch als Ressortleiter “Heidelberg” versucht. Ihm ist das Thema Studentenverbindungen zugelaufen, seitdem kümmert er sich darum. Außerdem brennt er für größere Projekte wie die Recherche zur Ungerechtigkeit im Jurastudium. Lieblingsstadtteil: die grünflächige Bahnstadt (*Spaß*)
Nicolaus Niebylski studiert Biowissenschaften. Beim ruprecht ist er seit dem Sommersemester 2017 tätig – meist als Fotograf. Er bevorzugt Reportagefotografie und schreibt über Entwicklungen in Gesellschaft, Kunst und Technik. Seit November 2022 leitet er das Ressort Heidelberg. Zuvor war er, beginnend 2019, für die Ressorts Studentisches Leben, PR & Social Media und die Letzte zuständig, die Satireseite des ruprecht.
Volt präsentiert das mit Abstand zukunftsfähigeste Wahlprogramm aller Parteien und eine sehr fähige Kandidatin. Ich werde Volt wählen.