Teil 1
ruprecht: Was macht die Forschungsstelle Antiziganismus (FSA)? Und an welchen Stellen ist die Forschung vielleicht noch nicht ganz so weit?
Reuter: Unter Antiziganismus verstehen wir eine spezifische Form von Rassismus die sich gegen Menschen richtet, die unter dem Stigma „Zigeuner“ wahrgenommen werden. Diese vom Großteil der Betroffenen heute als verletzend empfundene Fremdbezeichnung ist kein homogener Begriff, sondern eine Sammelbezeichnung für sehr heterogene, vielschichtige Gruppen, die im historischen Prozess unterschiedlich definiert und wahrgenommen wurden. Am stärksten von Antiziganismus betroffen sind Angehörige der Minderheit der Sinti und Roma.
Unser Schwerpunkt ist die historische Antiziganismusforschung, die sich mit den Mechanismen der Vorurteilsbildung beschäftigt. Unser Untersuchungszeitraum reicht von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, wir arbeiten aber hauptsächlich im Feld der Zeitgeschichte. Ein wichtiger Schwerpunkt liegt auf der Beschäftigung mit dem NS-Völkermord an Sinti und Roma. Es geht aus dieser historischen Perspektive stark um strukturellen Rassismus, um institutionelle Praktiken, um das Handeln von Personen in Institutionen, zum Beispiel im Kripo-Apparat – also sehr handfeste Fragen. Daneben nehmen wir aber auch die Diskursebene in den Blick. Ich selbst beschäftige mich auch mit Bildern, mit dem was man als „Zigeuner“-Stereotypen bezeichnet, also mediale Repräsentationen. Das sind unsere zentralen Felder: Einmal die klassische Geschichtswissenschaft, in der es um soziale Praktiken geht, dann aber auch die Metaebene, auf der es um Diskurse und Repräsentationen geht, etwa in der Fotografie oder Literatur.
Unsere Forschungsstelle ist am Historischen Seminar angesiedelt, unser Team besteht aber nicht nur aus Historiker*innen, wir arbeiten auch stark interdisziplinär und suchen stets die Zusammenarbeit mit Expert*innen anderer Fachrichtungen. Zum Thema Bilder haben wir zum Beispiel eine laufende Dissertation, die sich mit der spanischen Figur des „Gitano“ in der Franco-Ära beschäftigt. Das handfeste Historiker*innen-Handwerk übt unter anderen Frau Gress aus, die sich mit Bürger- und Menschenrechtsbewegungen der Sinti und Roma auseinandersetzt. Ein weiteres Forschungsprojekt an der FSA untersucht den Umgang mit als „Zigeunern“ stigmatisierten Menschen in der NS-Zeit auf lokaler Ebene in Magdeburg. Darüber hinaus entsteht hier eine großangelegte Enzyklopädie, die die europäische Dimension des Genozids an den Sinti und Roma aufarbeitet.
Frau Gress, möchten Sie daran anknüpfen?
Gress: Antiziganismusforschung ist – universitär gesehen – ein recht junges Forschungsfeld. Unsere Forschungsstelle ist die erste ihrer Art und wurde erst 2017 gegründet. Erfreulicherweise haben wir uns schon relativ schnell vergrößern können durch die Einwerbung von Drittmittelprojekten. Es gibt aber noch sehr viele Desiderate. Dazu zählt auch die Nachgeschichte des Völkermordes. Wir haben hier etwa ein Projekt angesiedelt, das meines Wissens nach erstmals die Nachkriegszeit auf landesgeschichtlicher Ebene in Baden-Württemberg fokussiert – für andere Bundesländer steht eine großangelegte Untersuchung zu den Kontinuitäten und Brüchen nach 1945 noch aus.
Die NS-Zeit ist mittlerweile gut aufgearbeitet. Natürlich gibt es auch hier noch Lücken, da ist aber in den letzten Jahrzehnten ziemlich viel passiert. Für die Zeit danach und davor sollte noch mehr geforscht werden. Für die Frühe Neuzeit gibt es zum Beispiel noch nicht viel Forschungsliteratur. Und auch der aktuelle Antiziganismus in Europa ist ein riesiges Problem, da muss noch viel mehr Grundlagenforschung stattfinden. Auf unserem Feld ist also ist noch viel Platz für weitere Forscher*innen.
Wie ist Antiziganismus historisch gewachsen? Wo sind da die wichtigsten Punkte in der deutschen Geschichte?
Gress: Erste Quellen, in denen die Fremdbezeichnung „Zigeuner“ auftaucht, stammen aus dem Spätmittelalter, für den deutschen Sprachraum aus dem 15. Jahrhundert. Zunächst wurden die Betroffenen als Pilger wahrgenommen und geduldet. Das hat sich aber relativ schnell gewandelt. Bereits Ende des 15. Jahrhunderts lassen sich erste Feindseligkeiten und Übergriffe ausmachen. Die Betroffenen galten nun als Fremde, Spione, Bettler oder Vaganten und wurden für vogelfrei erklärt – so beginnt die Vorurteilsgeschichte.
Der moderne Antiziganismus trat mit der Aufklärung auf: Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entstand ein großer kontaminierter „Wissensbestand“; zahlreiche Gelehrte schrieben sogenannte „Zigeunern“ allerlei negative und andersartige Eigenschaften zu. So entstand ein Repertoire aus Stereotypen und Bildern, das die europäische Kulturgeschichte wesentlich geprägt hat. Die Figuren fanden nicht nur Eingang in die Wissenschaft, sondern auch in die Kunst, Literatur – und erfanden sich in jedem Medium neu.
Die Vorgeschichte des NS-Völkermords beginnt gegen Ende des 20. Jahrhunderts im Kontext der Nationalstaatsgründung und der Modernisierung des Polizeiapparates. Die moderne Kriminalpolizei hat beispielsweise die Einführung neuer Fahndungspraktiken am Feindbild des „Zigeuners“ ausgerichtet und legitimiert. Die Behörden erfassten und kriminalisierten unter diesem Stigma unterschiedliche Gruppen, die marginalisierten Lebensgewohnheiten und Berufen nachgingen. Das war eine Vorbedingung für den Radikalisierungsprozess während des Nationalsozialismus. Im Rahmen des neuen politischen Regimes vollzog sich ein Prozess der Rassifizierung: die alten Praktiken gingen eine Verbindung mit radikalen Ideologien wie der Rassenhygiene ein, daraus resultierten staatliche Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen, die im Völkermord mündeten.
Reuter: Der Kern dessen, was man als Historiker fragt ist: Warum gibt es diese Bilder, sprich, welche Funktion haben sie? Es geht weniger darum, diese Bilder inhaltlich zu widerlegen – natürlich auch. Aber es geht darum, welche Funktion sie für diejenigen haben, die die Bilder verwenden, für das, was man Dominanzgesellschaft bezeichnet. Und da findet man ganz früh dieses Muster, dass „Zigeuner“ – natürlich als Konstrukt gesehen und nicht als reale Gruppe – eine Art Gegengesellschaft bilden. Sie stehen für Alterität, für Anderssein. Sie stehen im Grunde für negative Spiegelbilder von Selbstkonzepten, wie dem Arbeitsethos der frühbürgerlichen Disziplinargesellschaft. Überhaupt ist bürgerliche Gesellschaft ohne das Feindbild des „Zigeuners“ kaum denkbar.
Dieser ist quasi der Antibürger per se, zugleich aber auch eine romantische Fluchtfigur für Leute, die bürgerliches Leben aus einer künstlerischen Perspektive heraus kritisieren. Die Antiziganismusforschung analysiert diese Figuren und deren instrumentellen Gebrauch. Man findet sie in der Populärkultur, aber auch in der Politik als Feindbilder, sie sind vielfältig instrumentalisierbar als Gegenfigur zu eigenen Konzepten. Und gerade dieses Zusammenspiel des Fremd- und Selbstbild ist der Kern dessen, was man als Antiziganismusforschung beschreibt.
Gress: Diese Funktionen hat der Antiziganismus mit anderen Rassismen gleich: Selbstaufwertung, Identitätsstabilisierung, aber auch Welterklärung. Jeder Rassismus bringt jedoch eigene Bilder und Stereotype hervor. Der Unterschied zwischen Antiziganismus, Antisemitismus oder Kolonialrassismus liegt also hauptsächlich im Inhalt, die Zuschreibungsmechanismen sind hingegen vergleichbar.
Anknüpfend an das gerade von Ihnen erläuterte Selbst- und Fremdbild: Wer sind die Gruppe von Sinti und Roma, wie ist sie gewachsen? Es gibt diese Klischees, Frau Gress, Sie haben das auch angesprochen: Pilgern, Fremdheit, Armut. Wodurch zeichnet sich die Gruppe überhaupt aus und wie sieht die Gruppe sich selbst? Sie haben erläutert, wie sie wahrgenommen werden, aber das passt ja offensichtlich nicht ganz zusammen.
Gress: Ich tue mich immer schwer mit der Erklärung, Sinti und Roma würden ursprünglich aus Indien stammen. Diese Information wird etwa in den Medien meist zuerst genannt auf die Frage, wer Sinti und Roma sind. Linguistische Untersuchungen zeigen zwar, dass das richtig ist, dennoch ist das eine sehr homogenisierende Wahrnehmung. Der Fokus auf den Ursprung des Romanes, der Sprache der Sinti und Roma, vermittelt den Eindruck von einer fremden, sehr konstant gebliebenen Gruppe– dabei erfolgte diese Migration vor Jahrhunderten. Sinti und Roma leben seit über 600 Jahren in Europa. Es gibt auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft viele Menschen, deren Vorfahren eine Migrationsgeschichte hatten, wenn das aber etliche Generationen zurückliegt, wird das lange nicht so stark hervorgehoben wie bei Sinti oder Roma. Deshalb finde ich es immer schwierig, die Minderheit so zu definieren. Der Mythos vom fremden Volk wirkt bis heute nach, dabei haben Sinti und Roma die europäische Kulturgeschichte mitgeprägt. Ich finde es deshalb viel wichtiger darauf hinzuweisen, dass Sinti und Roma ein integraler Bestandteil der nationalen Gesellschaften Europas sind.
„Sinti“ ist die Selbstbezeichnung der Minderheitsangehörigen, die traditionell im deutschen Sprachraum leben. „Roma“ nennen sich jene Gruppen, die aus Osteuropa stammen, unter ihnen gab es seit dem 19. Jahrhundert Migrationsbewegungen nach Deutschland. Die Sinti und Roma mit deutscher Staatsbürgerschaft sind hier seit Mitte der 90er Jahre als nationale Minderheit anerkannt [Anm. d. Red.: damit gehen Minderheitenschutz und -förderung einher]. Auf internationaler Ebene wird der Begriff „Roma“ auch als Sammelbezeichnung für alle Minderheitsangehörigen verwendet. In Deutschland hat sich hingegen der Doppelbegriff „Sinti und Roma“ eingebürgert. Aber eigentlich sind das zwei unterschiedliche Gruppen. Angehörige der Minderheit kann man nicht pauschal unter einen Hut stecken, sie sind genauso divers wie die Gesamtgesellschaft. Was sie vereint ist vielleicht die Sprache, aber auch da gibt es ein paar Unterschiede zwischen den Romanes-Sprecher*innen aus unterschiedlichen Heimatstaaten. Gerade das Romanes der Sinti beinhaltet ganz viele Lehnwörter aus dem Deutschen, daher kann es auch zu Verständigungsproblemen mit Romanessprecher*innen aus anderen Ländern kommen. Die Eigenbezeichnungen „Sinti“ oder „Roma“ sind in der Öffentlichkeit noch nicht lange bekannt. Ihre Einführung im deutschen Diskurs geht zurück auf die Begründer der Bürgerrechtsbewegung von Sinti und Roma, die seit den 70er Jahren darauf aufmerksam gemacht haben, dass sie eben nicht mehr „Zigeuner“ genannt werden möchten. In den Quellen können wir die Selbstbezeichnungen allerdings bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen.
Sie haben die Selbstbezeichnung angesprochen, seit Kurzem steht auch der Begriff „Antiziganismus“ teilweise in der Kritik, weil er diesen Wortstamm „Zigan“ für „Zigeuner“ beinhaltet. Was sagt die Forschung und was sagen Sie als Forscherin bzw. Forscher dazu? Steht es zur Diskussion, ob man vielleicht einen anderen Begriff finden soll?
Gress: Ja, gerade in den letzten Tagen wird wieder vermehrt darüber diskutiert. Der Begriff wird nicht von allen Betroffenen akzeptiert, weil einzelne Minderheitsangehörige bereits die Wiederholung des Lexems „Zigan“ als Verletzung empfinden. Allerdings sprechen sich auch viele Sinti und Roma explizit für die Verwendung des Begriffs aus, darunter die wichtigsten Selbstorganisationen wie der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma oder auch der baden-württembergische Landesverband Deutscher Sinti und Roma. Wissenschaftlich gesehen sprechen mehr Argumente für als gegen diese Bezeichnung. Die Forschung hat auch gezeigt, dass der Begriff von der Minderheit selbst eingeführt wurde. Russische Roma-Aktivisten verwendeten das Wort bereits in den 20er Jahren. Ausgehend vom russischen wurde dann auch der englische Begriff „Antigypsyism“ geprägt. Wir in Deutschland kennen den Terminus erst seit den 70er Jahren. Meines Erachtens nach hat sich keine bessere Alternative finden können. Wir haben bereits darüber gesprochen, dass sich die Antiziganismusforschung viel mit Konstrukten, Projektionen oder Stereotypen beschäftigt. Wenn wir jetzt zum Beispiel den Alternativbegriff „Antiromaismus“ verwenden, könnte dies zum Missverständnis führen, dass antiziganistische Bilder mit der realen Minderheit gleichgesetzt werden – die Roma sind aber nicht verantwortlich für den Rassismus gegen sie. Auch historisch gesehen würde der Begriff „Antiromaismus“ auf die Geschichte zurückprojizieren, dass lediglich Roma vom Rassismus betroffen waren, aber das ist nicht korrekt. Im Laufe der Jahrhunderte wurden noch andere Gruppen so stigmatisiert, zum Beispiel die Jenischen oder Irish Travellers. Ein weiterer Vorteil des Wortes Antiziganismus ist: Er ist zwar noch nicht sehr bekannt, aber was den meisten, die ihn erstmals hören, auffällt, ist die Analogie zum Antisemitismus-Begriff. Was Antisemitismus ist, wissen sehr viel mehr Menschen, dies kann auch dabei helfen, die Gesellschaft stärker für ein Engagement gegen Antiziganismus zu sensibilisieren.
Xenia Miller studiert Politikwissenschaften und Soziologie und schreibt seit Sommersemester 2018 für den ruprecht. Sie schreibt von verkalktem Trinkwasser über Kabarettist*innen und Autor*innen bis hin zu Drachenbootfahren über alles, was sie so interessiert. Herzensthema bleibt natürlich die Politik. Im Wintersemester 19/20 leitete sie das Ressort Weltweit, seit Sommersemester 2020 das Ressort Heidelberg als Doppelspitze.