Das russische Volk geht seit Wochen auf die Straßen. Dreißig Jahre sind vergangen seit dem Fall der Sowjetunion, seit über zwanzig Jahren regiert nun praktisch Staatspräsident Wladimir Putin das Land. Immer mehr Nachfahren derjenigen, die vor mehr als einem Jahrhundert die wohl größten Revolution des 20. Jahrhunderts durchführten, sehen in ihm einen weiteren Zaren, den es zu stürzen gilt.
An der Spitze der russischen Opposition steht Alexei Nawalny. Vor drei Jahren schon wurde er, nachdem er sich als Kandidat für die Präsidentenwahl 2018 aufgestellt hatte, von der zentralen Wahlkommission davon ausgeschlossen. Im Sommer 2020 ist er erneut in den Schlagzeilen: Nach seiner Einlieferung in die Berliner Charité, wird dort eine Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff „Nowitschok“ festgestellt. Für diese soll der russische Geheimdienst verantwortlich sein. Mitte Januar kehrt Nawalny nach Moskau zurück, noch am selben Tag wird er festgenommen.
Einen Tag nach der Verhaftung wird sein investigativer Dokumentarfilm „Ein Palast für Putin“ auf YouTube veröffentlicht. Fast zwei Stunden geht der Film, in dem der Rechtsanwalt und politische Blogger ausführlich die Korruption aufdeckt, die Putin mit den restlichen Regierungsmitgliedern seit langem betreibt. Außerdem werden Außen- und Innenaufnahmen der Residenz am Kap Idokopas gezeigt, einem 68 Hektar großen Anwesen am Schwarzen Meer, das Putin gehöre und umgerechnet 1,1 Milliarden Euro gekostet haben soll, die der Präsident aus der Staatskasse bezahlt habe. Nawalny ruft zu Demonstrationen auf.
Über 86 Millionen Mal wurde die Doku innerhalb nur einer Woche aufgerufen. Vier Tage später die Reaktion des Volkes: Am Samstag, den 23. Januar versammeln sich russlandweit nach offiziellen Angaben 130 000 Menschen, um gegen Putin und das politische System zu protestieren. Die russische Regierung reagiert mit Polizeigewalt: Laut BBC soll es 3000 Verhaftungen gegeben haben, 1000 davon allein in Moskau. Eine Woche später, am 31. Januar folgen weitere Massenproteste – diesmal werden fast 5000 Protestierende verhaftet. Auch Nawalnys Ehefrau Julia Nawalnaja wird festgenommen. Zwei Tage später wird Nawalny zu dreieinhalb Jahren Straflager verurteilt.
Wir haben mit drei Studierenden aus St. Petersburg und einer russischen Journalistin gesprochen, die selbst die Proteste befürworten oder sogar an ihnen teilgenommen haben. Über die momentane Lage Russlands, die Chancen auf Veränderung, die Hoffnung auf Demokratisierung und Putins Angst vor dem Volk.
Konstantin Kotelnikov, hat Geschichte an der Uni Petersburg studiert und letzten Sommer seinen PhD beendet:
„Es gibt ein russisches Wort – ‚накипело‘, das etwa ‚hängt zum Halse raus‘ oder ‚aufgestaut‘ bedeutet und das sehr gut beschreibt, warum wir jetzt protestieren. Der Versuch Putins, Nawalny zu töten, war der Anlass, aber es geht um viel mehr. Darum, das System zu ändern, politische Partizipation und Rechtstaatlichkeit zu bekommen.
Der Staat ist von Pseudopolitikern erobert, die ständig Millionen von Menschen erniedrigen, gemein betrügen und einschüchtern. Die Beamten stehlen Milliarden von uns und bleiben dabei völlig ungestraft. Die meisten Menschen haben keine Perspektive, die Intellektuellen emigrieren. Während der Pandemie hat der Staat dem Volk nicht geholfen. Im Land verdienen 20 Millionen Menschen weniger als 300 Euro im Monat, die durchschnittliche Rente liegt bei 180 Euro, aber die Lebensmittelpreise sind fast wie in Deutschland.
Die Proteste werden wahrscheinlich bald zurückgehen, weil die Leute vor der Polizei Angst haben. Außerdem glaubt ein großer Teil der russischen Gesellschaft nicht, man könne etwas verändern. Andererseits sind Putins Ratings stark gesunken, das Volk vertraut ihm nicht mehr. Ohne Fälschungen wird seine Partei die Duma-Wahlen im September 2021 wohl nicht gewinnen.
Putin hat auf jeden Fall große Angst: Er ist einer der meistgeschützten Diktatoren der Welt. Die Treffen mit ‚Untertanen‘, die manchmal im Fernsehen gezeigt werden, sind in Wahrheit Treffen mit verkleideten Arbeitern des FSO (der Föderaler Dienst für Bewachung der Russischen Föderation). Bei internationalen Treffen trinkt er nur aus seinem persönlichen Becher. Vor allem fürchtet Putin das Volk und diejenigen, denen das Volk glaubt – besonders Nawalny. Außer Nawalny ist die ganze Politik bei uns längst verhaftet, vergiftet, ermordet und erstickt. Auch Nawalny versucht man zu ersticken.
Unter den Demonstranten sind alle Schichten vertreten – der Staat hat zu viele zur Verzweiflung gebracht. Sogar 80-Jährige protestieren. Die meisten sind aber junge Menschen und Intellektuelle zwischen 20 und 40 Jahren. Die junge Generation hat weniger Angst, sie erinnert sich nicht an die Sowjetunion und sie sieht nicht fern.
1917 herrschte in Russland eine absolute Monarchie, aber niemand half dem Zaren, als das Volk aufstand. Auch 1991 schützte niemand die sowjetische Macht, als diese einbrach. Diesmal wird es dasselbe sein. Nach Putins Herrschaft ist meiner Meinung nach die Demokratisierung Russlands unvermeidlich.“
Katja Chekhacheva, studiert an der staatlichen Uni Sankt Petersburg Kulturwissenschaften:
„Ich habe an den Protesten teilgenommen, weil meine Rechte und Freiheiten in Russland ständig verletzt werden. Mir ist in den letzten Tagen bewusst geworden: Je länger wir unpolitisch bleiben, desto schlechter leben wir. Jetzt ist auch noch der leitende Politiker der Opposition Alexey Nawalny ungesetzlich ins Gefängnis gesteckt worden. Es war wichtig für mich zu zeigen, dass ich gegen diese Gesetzlosigkeit bin. Bei den Kundgebungen am 23. und 31. Januar habe ich Menschen unterschiedlichen Alters gesehen, aber die größte Gruppe ist die der jungen Leute zwischen 25 und 35 Jahren.
Diese Proteste gehören zu den größten der letzten Jahre, viele Menschen sind zum ersten Mal auf die Straße gegangen. Für einen Staat, in dem die Teilnahme an Kundgebungen mit Drohungen, Festnahmen, Gewalt und Gefängnisstrafen verbunden ist, ist dies ein sehr gutes Zeichen. Doch um einen ernsthaften Wandel herbeizuführen, müssen wir noch zahlreicher werden, und wir haben Grund, dies zu erwarten. Immer mehr Menschen sind mit den gegenwärtigen Machtverhältnissen unzufrieden.
Leider ist es schwer zu sagen, ob die Proteste etwas verändern können. In unserem Land führen Proteste nicht immer dazu, dass nicht weiter Verbrechen begangen werden. Wir werden uns aber nicht ergeben! Ich glaube, die meisten Menschen werden sich an Nawalnys Team als Hauptorganisator der Proteste orientieren.
Ich denke, Putin hat zweifellos Angst vor Nawalny. Alles, was mit Nawalny in letzten Monaten geschah, ist der beste Beweis für die Angst des Regimes und Putins persönlich davor, die Macht zu verlieren.“
Polina Milovanova ist Studentin an der Uni Sankt Petersburg:
„Es scheint, als würden unsere jungen Leute eher die Position Alexej Nawalnys befürworten. Es sind aber lange nicht alle, die ihn befürworten. Alexej inszeniert sich genau im richtigen Moment als das Gesicht der Opposition in Russland, und genau deshalb teilen viele seine Ansichten. Ich eingeschlossen. Fast jeden Tag lesen wir im Internet über neue politische Gefangene. Die Regierung sperrt Menschen ein, die an nichts schuldig sind. Zum Beispiel gab es einen Fall, wo ein Mann einfach einen Pappbecher auf die Polizei warf. Sie brachten ihn ins Gefängnis. Und das ist nur ein Fall von Tausenden.
Meine Generation sieht das alles, deshalb haben vor allem Studenten, Schüler und allgemein junge Leute ein negatives Verhältnis zu den Behörden.
Ob die Demonstrationen etwas im Land verändern werden? Wahrscheinlich verändert sich etwas, aber erst wenn eine große Anzahl an Menschen für sich den Mut finden, offen ihre Meinung zu sagen.
Putin hat Angst vor Nawalny, weil dieser den größten Betrug dem ganzen Land vor Augen führt, weil Nawalny immer mehr Leute folgen. Natürlich gibt es Gründe Nawalnys Ehrlichkeit anzuzweifeln, aber die Leute brauchen einen Anführer, egal ob er von jemandem geschickt wurde oder nicht. Die meisten Leute gehen sowieso für sich selbst und das Volk auf die Straße.
Natürlich sieht im russischen Fernsehen alles anders aus, als es ist! Unsere Großeltern, die in der Regel kein Internet haben, sind eher dazu geneigt, den Nachrichten zu vertrauen. Deshalb werden auf dem Staatskanal nachbearbeitete Videos gezeigt. Beispielsweise gibt es einen Videoausschnitt, auf dem die Polizei einer älteren Frau in den Bauch tritt, damit sie ihm nicht im Weg steht. Dieses Video wurde so zurechtgeschnitten, dass es so aussieht, als ob sie auf ihn losging. Und das zeigt man im russischen Fernsehen nach dem Motto: ‚Schaut her, wie aggressiv die Demonstrierenden sind!‘“
Olga Kochetkova-Korelova arbeitet als Journalistin, Redakteurin und Psychologin:
„Wenn es zu Protesten kommt, sind sie in jedem Fall gerechtfertigt. Das bedeutet, dass ein bestimmter Teil der Menschen nur einen solchen Weg gefunden hat, sich zu äußern, und dass diese Menschen etwas zu sagen haben. Jetzt versucht man in Russland aus den Protesten eine Aktion zu machen, die von ‚bösen Mächten‘ organisiert wurde. In meinen Augen liegt hierin der anfänglich größte Fehler: Das moderne Kommunikationssystem – soziale Netzwerke, das Internet – hat die Welt so verändert, dass es keiner besonderen Organisation bedarf. Menschen erhalten sehr schnell Informationen und reagieren auch sehr schnell darauf, tauschen Meinungen, Emotionen, Fakten und Gerüchte aus. Darüber hinaus sind dies nicht die ersten Proteste: Genauso war die russische Bevölkerung auch bereit, nach dem ‚Fall Iwan Golunow‘ – einem Journalisten, dem wegen seines investigativen Journalismus Drogen untergeschoben wurden – auf die Straße zu gehen. Es gab auch weitere Fälle. Aber vor allem die Proteste am 23. und 31. Januar will man als bestellt oder von jemandem auferlegt darstellen.
Die Menschenwürde wird in Russland in den letzten Jahren mit Füßen getreten. Viele gehen auf die Straße, nicht weil sie Nawalnys Politik befürworten, sondern, weil sie es für zynisch und rechtswidrig halten, was mit ihm passiert ist – die Vergiftung und die Verhaftung.
Was die Frage angeht, ob die Proteste weitergehen, wenn es Nawalny nicht mehr gibt, und ob diese überhaupt etwas verändern können, passt ein russisches Sprichwort: Steter Tropfen höhlt den Stein. So zu tun, als ob nichts geschieht, macht es für die Behörden immer schwieriger, andernfalls wären solche harten Maßnahmen nicht ergriffen worden. Jetzt, so scheint es mir, kann jede Situation, die die Menschenrechte verletzt, ein Katalysator für Unruhen sein.
Was Putins Angst vor Nawalny angeht, kann nur Putin selbst die Frage beantworten. Als Psychologin kann ich sagen, dass sich hinter Wut und Aggression oft Angst verbirgt. Aber Angst um was – das ist die große Frage: Angst um die Gesamtheit des Landes, die wir schon einmal in den 90er Jahren verloren haben, und ein großer Teil der russischen Bevölkerung erinnert sich an die Perestroika und ihre katastrophalen Folgen für viele Familien. Oder eine Art von persönlicher Angst. Das wissen wir nicht.
Nicht alles, was uns gezeigt wird (auch in den sozialen Netzwerken) ist die Wahrheit. Jeder sieht das, was er braucht. Wir können nur das kritische Denken einschalten: unterschiedliche Informationen lesen und schauen und eigene Schlussfolgerungen daraus ziehen. Ich kann sagen, dass unter meinen Bekannten diejenigen sind, die verhaftet wurden und jetzt auf die Gerichtsverhandlung warten. Es gab Verprügelungen und harte Aktionen seitens der Polizei, und dies wurde von Fernsehen und Kameras aufgezeichnet.“
Von Ruth Fuentes und Xenia Miller
Ruth Lang Fuentes studiert Mathematik. Sie schreibt seit dem SoSe 2020 für den ruprecht über politische Anliegen der Studierenden, sowie über Film und Kino in Heidelberg. Nebenbei schreibt sie einen Blog über Film und Feminismus, ein Thema, das sie auch im ruprecht mehr aufgreifen möchte. Seit dem WiSe 2020/21 leitet sie das Ressort Online.
Xenia Miller studiert Politikwissenschaften und Soziologie und schreibt seit Sommersemester 2018 für den ruprecht. Sie schreibt von verkalktem Trinkwasser über Kabarettist*innen und Autor*innen bis hin zu Drachenbootfahren über alles, was sie so interessiert. Herzensthema bleibt natürlich die Politik. Im Wintersemester 19/20 leitete sie das Ressort Weltweit, seit Sommersemester 2020 das Ressort Heidelberg als Doppelspitze.