Nicht nur geographisch ist Chile ein Land der Gegensätze, sondern auch gesellschaftlich. Die soziale Schere zwischen Arm und Reich spaltet die Bevölkerung: Gerade für eine gute Bildung müssen sich viele junge Menschen verschulden. Seit Jahren protestieren Schüler:innen und Studierende gegen die Ungerechtigkeit des privatisierten Bildungssystems. Einer der ehemaligen Demonstrant:innen wird jetzt Chiles neuer Präsident – der jüngste in der Geschichte des Landes.
Gabriel Boric kommt aus Punta Arenas, einer Stadt im südlichsten Teil von Chile. In der Hauptstadt Santiago studierte er Rechtswissenschaft, widmete sich gegen Ende seines Studiums aber vor allem dem hochschulpolitischen Aktivismus. Nach zwei Amtszeiten im Abgeordnetenhaus für den Wahldistrikt seiner Heimatregion „Región de Magallanes“, trat Boric 2021 als offizieller Kandidat der linken Koalition „Apruebo Dignidad“ zur Präsidentschaftswahl an.
Nun hat sich der Sozialdemokrat in einer Stichwahl mit knapp 56 Prozent der Stimmen gegen den extrem konservativen Republikaner José Antonio Kast durchgesetzt. Er verspricht Chile einen sozialen Wandel. Im März 2022 beginnt seine erste Amtszeit. Bereits 2011 war Boric eine:r der studentischen Anführer:innen der Proteste für soziale Reformen, bei denen besonders ein Wandel des Bildungssystems gefordert wurde. Als Präsident will sich der Fünfunddreißigjährige nun für die Reform des Bildungswesen einsetzen, die er als Demonstrant vor etwa zehn Jahren von der damaligen Regierung gefordert hatte. Die Qualität der Bildung soll dabei nicht mehr auf der Herkunft und den finanziellen Möglichkeiten der Schüler:innen und Studierenden basieren. Darüber hinaus plant er, das Rentensystem zu modernisieren, sich mehr für Klima- und Umweltschutz einzusetzen, den Mindestlohn zu erhöhen und ein staatliches Krankenversicherungssystem aufzubauen. Erreichen will er das unter anderem durch eine stärkere Besteuerung der reichen Oberschicht und der Industrie. Außerdem will sich Boric gegen die Diskriminierung von sexueller Vielfalt, für Frauenrechte und für die allgemeine Gleichstellung der Geschlechter einsetzen. Kurz zusammengefasst: Chile soll einen großen politischen Richtungswechsel vollziehen und sich wirtschaftlich sowie sozialpolitisch vom Erbe der Pinochet-Diktatur lösen.
Die Umsetzung seiner Wahlversprechen ist ein schwieriges Vorhaben, das von der Kooperation mit anderen Parteien und somit von Kompromissen abhängt. Seine Koalition „Apruebo Dignidad“ bildet nämlich keine Mehrheit im Parlament. Unter seiner Präsidentschaft steht Chile zudem eine besonders große Aufgabe bevor: Aktuell tagt eine Verfassungsgebende Versammlung in der die Reformforderungen der Demonstrant:innen aus den letzten Jahren diskutiert werden. Das ist vermutlich die größte Errungenschaft der Massenproteste aus dem Jahr 2019 gegen die soziale Ungleichheit. Die alte Verfassung stammte, wie das Bildungs- und Wirtschaftssystem, noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet.
„Meiner Meinung nach hat der bessere Kandidat gewonnen. Die Ansichten von José Kast sind veraltet“, findet die zwanzigjährige Florencia, Studentin in Santiago de Chile. Kast hätte sich vor allem auf die Wirtschaft fokussiert, sich aber kaum für die Rechte von Frauen, Indigenen oder der LGBTQ+-Community eingesetzt. Im Gegenteil, er sei zum Beispiel gegen die Ehe für alle und gegen die Möglichkeit der Abtreibung. In ihrer Familie seien die Meinungen aber gespalten, genauso wie im Rest der Gesellschaft. „Ich werde der Präsident aller Chileninnen und Chilenen sein“, verkündete der designierte Staatspräsident nach seinem Wahlsieg. Er will die gespaltene Gesellschaft wieder zusammenbringen und nach dem knappen Wahlsieg auch die Gegenstimmen von seinen Fähigkeiten als Präsident überzeugen. Das Publikum hatte er in seiner Rede zuvor nicht nur auf Spanisch, sondern auch auf einigen Sprachen indigener Stämme, unter anderem der Mapuche, Rapanui und Aymara, begrüßt.
Die Mapuche bilden den Großteil der indigenen Bevölkerung in Chile. Im 19. Jahrhundert wurde das Gebiet der unabhängigen Mapuche-Nation gewaltsam an den chilenischen Staat angegliedert. Ihr Land im Süden Chiles wurde daraufhin stark von europäischen Auswander:innen besiedelt und unter Großgrundbesitzer:innen aufgeteilt. Viele Mapuche zogen in die Städte oder leben noch immer in einfachen Verhältnissen der eigenständigen Gemeinden, den „comunidades“. Der Konflikt um ihre kulturellen Rechte, ihren Anspruch auf das Land und die natürlichen Ressourcen besteht noch immer. Häufig eskalieren die Proteste und es kommt zu Gewalttaten zwischen chilenischem Militär, der Polizei und den Demonstrant:innen. Nachdem sich der vorherige Präsident Sebastián Piñera kaum für die Lösung des Konflikts mit den Mapuche eingesetzt hatte, will Boric dies nun umso mehr tun. In seinem Wahlprogramm schlägt er einen Prozess zur Deeskalation der Gewalt vor. Im Gegensatz zu anderen Politiker:innen lehnt er es ab, die Vorgehensweise der Mapuche als Terrorismus zu bezeichenen. Einige Organisationen der Mapuche zweifeln jedoch an fundamentalen Veränderungen durch die Präsidentschaft Borics. Sie befürchten, dass es sich lediglich um kleinere Reformen handeln wird und sich ihre Situation nicht dauerhaft verbessert.
Die Mehrheit von Chiles Wähler:innen hat große Erwartungen an ihren neuen Präsidenten und seine progressiven Pläne. Boric zeigt sich überzeugt von seinen Visionen: „Heute hat die Hoffnung über die Angst gesiegt“, verkündete er in der Nacht nach seinem Wahlsieg. Es gebe allerdings viel Arbeit zu erledigen. Damit hat er Recht, denn Boric steht, ähnlich wie Olaf Scholz, zu Beginn seiner Amtszeit vor einem von der Pandemie gezeichneten Land. Auf Chiles neuen Präsidenten warten viele Herausforderungen, denen er sich ab März stellen muss.
von Mona Gnan
...studiert Germanistik im Kulturvergleich und Geschichte. Sie schreibt seit 2021 für den ruprecht. Mona berichtet gerne über Kultur, die Welt und alle möglichen Diskurse. Eigentlich über alles, was die Gesellschaft gerade bewegt - oder bewegen sollte.