Auch in diesem Jahr organisierte die Amnesty International Hochschulgruppe Heidelberg einen Programmpunkt im Rahmen der lateinamerikanischen Woche: An einem Infofilmabend wurde die Dokumentation „En nombre de todos mis hermanos“ („Im Namen aller meiner Brüder und Schwestern“) gezeigt, die von Nadine Loubet, einer Ordensschwester im Widerstand unter der Diktatur Augusto Pinochets in Chile, handelt. Anhand ihrer Tagebücher erzählt die Dokumentation von ihrem Leben und Engagement, aber auch von anderen Akteur:innen im Kontext der Diktatur. Der junge Regisseur Samuel Laurent-Xu studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Menschenrechte in Paris und war bei der Veranstaltung für eine anschließende Fragerunde vor Ort. Im Interview mit dem ruprecht erzählt er von den Hintergründen seiner Arbeit und den Erfahrungen, die er während seiner Recherche gesammelt hat.
ruprecht: Wie kam deine Verbindung zu Chile zustande?
Ich bin 2018 für ein Jahr nach Chile gegangen, um dort zu studieren. Ich wollte an einer öffentlichen Universität studieren, um näher bei den Menschen zu sein und nicht nur bei den Söhnen und Töchtern der Elite. Jetzt bedeutet mir Chile sehr viel. 2021 bin ich zurückgekehrt, um die Menschen wiederzusehen, die mir am Herzen liegen, und um meine Feldforschung voranzubringen. Im Moment schreibe ich an einem Buch über die historische Forschung, die ich seit 2019 betreibe. Zudem möchte ich mein Engagement für die Menschenrechte in Latein- und Zentralamerika fortsetzen.
ruprecht: Recherchierst du für dein Buch weiterhin zu Nadine Loubet, deren Widerstand unter der Diktatur Pinochets auch in der Dokumentation beleuchtet wird?
Genau, wir arbeiten an einem Buch und ich hoffe, dass es im September 2023 fertig sein wird. Dann jährt sich nämlich der Militär-Putsch in Chile unter der Führung Pinochets zum fünfzigsten Mal. Es wird ein Buch sein, dass Gedenken, mündlich überlieferte Zeitzeug:innenaussagen, Feldforschung und schriftliche Zeugnisse miteinander kombiniert und verbindet. Wir gehen von dem Tagebuch Nadine Loubets aus, um den Kontext zu erläutern. Dann setzen wir uns im Detail mit der verfügbaren Historiographie auseinander und fokussieren die Rolle der unsichtbaren Frauen im chilenischen Widerstand. Wir schreiben über die geheimen Operationen, das pastorale Leben, die Festnahmen, die vorgefallenen Menschenrechtsverletzungen zwischen 1973 und 1990, die Schwestern der Kongregationen, die, die sie verlassen haben und die Rolle der weltlichen Personen.
Viele Menschen haben an mich geglaubt
ruprecht: Belastet es dich nicht, dich konstant mit diesen schrecklichen Dingen wie den Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur Pinochets zu beschäftigen?
Ich glaube schon, dass es mich belastet. Es ist sehr schwer zuzuhören, wenn erzählt wird, was die Menschen während der Diktatur in Chile erlebt haben: Folter, Inhaftierungen, Vergewaltigungen… Aber gleichzeitig geben mir der Mut und die Stärke, die sich aus diesen Zeug:innenaussagen ergeben, Lust zu handeln, mich zu beteiligen und auf irgendeine Art und Weise etwas Besseres aufzubauen. Und so ist es auch mit dem Gedenken, um aus der Vergangenheit zu lernen und zu verhindern, dass sich die Gräuel des vergangenen Jahrhunderts wiederholen.
ruprecht: An der Universidad de Santiago de Chile hast du Nadine Loubets Tagebücher erhalten. Wie hat dein Umfeld reagiert, als du von deinem Plan berichtet hast, eine Dokumentation über sie zu drehen? Hattest du von Beginn an viel Unterstützung?
Das war Ende 2018. Ein Professor der Universität, Esteban Miranda, hat über die Tagebücher gesprochen, ohne sie lesen zu können. Er hat sie mir zur Verfügung gestellt und als ich sie in meinen Händen hielt, habe ich gefühlt, dass ich etwas mit ihnen machen muss. Daher entstand die Idee, eine Dokumentation zu drehen. Am Anfang habe ich nur mit wenigen Personen darüber gesprochen, aber nachdem ich ein Crowdfunding gestartet hatte, das mir helfen sollte, die Kosten zu finanzieren, habe ich gesehen, dass viele Menschen an mich geglaubt haben. Die Ordensschwestern, die ich in Chile kennengelernt habe, haben sich ebenfalls für das Projekt begeistert und mir alles ermöglicht. Ihnen ist es zu verdanken, dass der Film entstanden ist.
ruprecht: Wie haben die Freund:innen von Nadine Loubet, die du interviewt hast, reagiert? Waren sie misstrauisch zu Beginn?
Sie haben mich mit viel Liebe begrüßt und jetzt haben wir eine sehr starke Beziehung. Sie sind mir sehr wichtig und ich hoffe, dass das Buch schnell genug fertig wird, damit es übersetzt werden und nach Chile geschickt werden kann. Offensichtlich war es manchmal schwierig, als Ausländer über manche Erinnerungen zu sprechen, die mir nicht gehören. Die Tatsache, französisch zu sein und zu einer Französin zu recherchieren, hat mir geholfen. Jetzt, da sich eine Vertrauensbeziehung etabliert hat, kann ich mit meiner Arbeit für das Buch fortfahren und bin sehr glücklich darüber, dass ich mich diesem Thema komplett widmen kann.
ruprecht: Gibt es unterschiedliche Reaktionen von einem europäischen Publikum im Vergleich zu einem chilenischen Publikum, wenn du die Dokumentation zeigst? Auch abhängig vom Alter des Publikums?
In Chile danken mir die Menschen immer dafür „Erinnerungen zu retten“, wie sie dort sagen. Ich bin sehr stolz, wenn sie mir gratulieren, weil ich diese Arbeit für sie gemacht habe. Auch in Europa kann man heute von dem Mut dieser unglaublichen Personen lernen, die ich glücklicherweise kennenlernen durfte. Bei den Vorführungen hier kommt es sehr auf das Publikum an: Die Student:innen interessieren sich für die Forschung, die Quellen, die Regie des Films, den Prozess der Umsetzung und so weiter. Das christliche Publikum interessiert sich sehr für die Figur der Nadine Loubet sowie die Geschichte der Befreiungstheologie und einige ältere Leute erinnern sich an die Zeit Allendes und den Putsch im Jahr 1973. Das war eine weltweite Episode, die viel mediale Resonanz erhielt.
Es wurde erneut über die Diktatur gesprochen
ruprecht: Verspürst du eine Art Verpflichtung, diesen Teil der Geschichte an jüngere Generationen weiterzugeben, damit er nicht vergessen wird?
Ich empfinde es als wichtig, ihn den jungen Menschen zu zeigen, aber ohne es „Verpflichtung“ zu nennen. Entscheidend ist, dass dieser Film inspiriert, dass ihn manche MenFoto: Samuel Laurent-Xu schen sehen und bewegt sind. Mir ist es wichtig, Geschichten über Kämpfe und Widerstand zu zeigen, um zu bekräftigen, dass sie in der heutigen Welt noch immer möglich und nötig sind. Denn das, was zur Zeit der Diktatur erlebt wurde, ist heutzutage immer noch aktuell. In Chile, aber auch in anderen Teilen der Welt.
ruprecht: Es ist schon drei Jahre her, seitdem der Film gedreht wurde. Haben sich die Reaktionen auf die Dokumentation in Hinblick auf die Veränderungen in Chile und der restlichen Welt seit 2019 verändert?
2019 wurde Chile durch die Aufstände das Zentrum der Nachrichten in Frankreich. Ich habe meinen Film das erste Mal am 24. Oktober 2019 präsentiert, gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem die Proteste und die Unterdrückung einen Höhepunkt erreichten. In Chile wurde in manchen Kreisen erneut über die Diktatur gesprochen und die entstandenen Hoffnungen, die sich mit dem intensiven Kampf verknüpften, waren sehr groß. Diesbezüglich sollte gesagt werden, dass es noch immer politische Gefangene in Chile gibt und die neue Regierung unter Boric noch nichts getan hat, um diese Situation zu ändern.
ruprecht: Hattest du das Gefühl, dass deine Dokumentation aufgrund dieser Ereignisse mehr Aufmerksamkeit bekommen hat?
Es stimmt, dass in Europa dadurch mehr über Chile gesprochen wurde. Besonders in Frankreich, wo die chilenische Gemeinschaft sehr aktiv ist. Dort gibt es ein sehr starkes generationenübergreifendes Gedenken. Aber in Chile haben sie nicht viel verändert. Ich denke, dass die Menschen, die sich für die Dokumentation engagiert haben, schon seit langer Zeit wollten, dass etwas aus der Geschichte gemacht wird. Sie waren bereit, sich zu betätigen, um den Film bekannt zu machen. Sie sind die eigentlichen Besitzer:innen der Geschichte, ihnen gehört der Film.
ruprecht: Was bedeutet historisches Gedenken und Erinnerungskultur im Allgemeinen für dich?
Ich glaube, dass Erinnerung viele Dinge umfasst. Ich betrachte das Erinnern als Kampfinstrument, um aus der Vergangenheit zu lernen. Im Fall Chiles bedeutet das, aus den persönlichen Erfahrungen der Menschen zu lernen, die sich für die Verteidigung einer Sache einsetzten, die den Verfolgten geholfen haben oder ähnliches geleistet haben. Ich sehe das Erinnern zugleich als eine menschliche Notwendigkeit, sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Es gibt noch immer viele Familien von Verschwundenen, die nichts von ihren geliebten Menschen wissen. Und die Regierung schweigt. Es gab und gibt viel Ernüchterung seit der „demokratischen“ Transition im Jahr 1990. In diesem Sinne einen Beitrag zu leisten, Quellen zu suchen, historische Figuren und Begebenheiten zu bewahren, ist mir sehr wichtig.
Das Gespräch führte Mona Gnan.
...studiert Germanistik im Kulturvergleich und Geschichte. Sie schreibt seit 2021 für den ruprecht. Mona berichtet gerne über Kultur, die Welt und alle möglichen Diskurse. Eigentlich über alles, was die Gesellschaft gerade bewegt - oder bewegen sollte.