Sie ist die neue Ministerpräsidentin Italiens: Giorgia Meloni, Vorsitzende der italienischen Partei Fratelli d’Italia (FdI), wurde am 22. Oktober 2022 auf ihr Amt vereidigt. Am Wahlabend des 25. Septembers erwies sich ihre Partei mit 26 Prozent als die stärkste politische Kraft Italiens und konnte einen Monat später zusammen mit den Parteien Forza Italia (FI) und Lega eine rechte Regierung bilden. Diese erhielt die absolute Mehrheit in beiden Parlamentskammern, obwohl die drei Parteien insgesamt nur 48 Prozent der Wählerschaft überzeugen konnten: Ein Paradoxon, das am aktuellen Wahlgesetz liegt, wie Jacopo Rosatelli, Gymnasiallehrer und Stadtrat in Turin, erklärt. Die bestehende Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht entspreche keiner strengen Proportionalität zwischen den Parteien zugewiesenen Sitzen und den Wahlergebnissen.Besonders begünstigt vom aktuellen Gesetz seien die Parteien, die bereits vor den Wahlen eine Koalition bilden. Das fragwürdige Wahlrecht füge sich in eine Reihe von Reformen, die seit Jahren vergeblich versuchen, eine bessere Regierungsfähigkeit zu ermöglichen, so Sabrina Ragone, Dozentin für Rechtswissenschaft an der Universität Bologna.
Italiens Politik ist instabil. Grund dafür seien vor allem die häufigen Regierungswechsel, wodurch sich die Politik des Landes seit Jahrzehnten auszeichnet. „Seit 1946 stellt Giorgia Meloni schon die 31. Person im Amt des Ministerpräsidenten Italiens dar“, erläutert auch Siegfried Schieder, Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Heidelberg. Auch Alex und Jonas*, Studierende der Politikwissenschaft in Heidelberg, verbinden mit der italienischen Politik Adjektive wie „fragil“ und „fragmentiert“. Zudem kommt Alex die italienische Bevölkerung frustriert vor: Eine Einschätzung, die der tatsächlichen Gefühlslage junger Italiener:innen entspricht. „Es ist ein großes Chaos. Uns haben die Älteren immer gesagt, unser Land sei am Besten zu verlassen“, erklärt Giulia, die dem Rat gefolgt ist und jetzt Übersetzungswissenschaft in Heidelberg studiert. Auch Silvia, die ihr Land hingegen nicht verlassen hat und derzeitig Politikwissenschaft in Bologna studiert, stoße oft auf die Frustration ihrer Landsleute, wenn es um Politik geht.
Es herrsche Verdruss an einer Politik, in der die Unterschiede zwischen den Parteiprofilen immer schwammiger würden, erklärt Rosatelli: Verdruss an einem System, in dem die Unbeständigkeit der Führungspersönlichkeiten vielen keine politische Identifikation mit einer Partei mehr ermögliche. Anders als in Deutschland habe sich die italienische Politik als theatralisch erwiesen, in der Fehlverhalten selten zu Amtsrücktritten führe, so Schieder.
Die Folgen? Eine seit Jahrzehnten abnehmende Wahlbeteiligung. Diese erreichte im letzten September mit nicht einmal 64 Prozent einen historischen Tiefpunkt. An die Macht kam eine Frau, der einige deutsche Journalist:innen Adjektive wie etwa „ultrarechts“ oder „faschistisch“ verpassen. Starke Begriffe, die in renommierten italienischen Zeitungen kaum zu finden sind. Sind die Italiener:innen nun etwa faschistisch geworden? Oder trifft die Bezeichnung lediglich auf Giorgia Meloni zu? Unsere Befragten glauben, faschistisch seien weder sie, noch die meisten Wähler:innen.
Der Erfolg Melonis sei neben der generellen Frustration viel mehr auf die Umverteilung der Stimmen innerhalb des rechten Spektrums zurückzuführen, erklärt Rosatelli. Schließlich bleibe die politische Rechte nach wie vor bei ungefähr 45 Prozent. Viele der Stimmen, die Berlusconi (FI) und Salvini aufgrund von Skandalen im Laufe der Jahre verloren haben, gingen nun an die übliche rechte Partei. „Meloni wirkt wenigstens konsequenter“, meint Sofia, eine Italienerin, die in Wien studiert.
Dieser Auffassung ist auch Schieder, der ihre Politik als für italienische Verhältnisse bisher sehr geradlinig und an Prinzipien ausgerichtet erachtet. Das könnte aber nur daran liegen, dass sie bisher keine Regierung geführt hat. In diesem Chaos neigen die Wähler:innen dazu, alle möglichen Wahl-Optionen durchzugehen – wenn sie zum Wählen überhaupt noch motiviert sind. Das ist in Italien nichts Neues und hat mehr mit Verzweiflung als mit Faschismus zu tun. Technisch gesehen sei die Lega sogar eine extremere Partei als FdI, meint Rosatelli.
Laut Giulia hätten einige deutsche Berichte mit ihren starken Formulierungen übertrieben: “Obwohl ich FdI nicht unterstütze, bleibt Italien eine wehrhafte Demokratie, mit einer klaren Gewaltenteilung und einer Verfassung.“ Rosatelli ergänzt: „Giorgia Meloni und ihre Partei befinden sich in einem politischen Spektrum zwischen Rechts und Rechtsextremismus.“ Dies hänge vor allem von den internationalen Beziehungen ab, die sie pflegen: die Nähe zur Partei VOX in Spanien oder zur PIS in Polen. Als faschistische Partei könne man die FdI jedoch nicht bezeichnen, da sie sich für die parlamentarische Methode entschieden habe und keine Theorien über rassische Überlegenheit oder Gewaltanwendung verbreite. Auch Jonas und Alex finden, dass man mit diesem Begriff vorsichtig umgehen muss.
Giorgia Meloni hat jedoch schon häufiger diskriminierende Aussagen getroffen, darüber sind sich die Befragten einig. Gewiss gibt es unter den Partei-Anhänger:innen auch Rechtsextreme. Die aggressive Rhetorik der Ministerpräsidentin sei aber hoffentlich nur eine Wahlstrategie gewesen, um auch diese Leute hinzuzugewinnen, so Giulia und Jonas. Von der neuen Ministerpräsidentin erwartet Silvia zwar einer Wiederbelebung des Autoritarismus, eine Rückkehr zum Faschismus hält sie aber für unwahrscheinlich. Rosatelli fühlt sich davon nicht beruhigt: Obwohl er bezüglich der Bürgerrechte, wie dem Abtreibungsrecht, keinen Rückschritt bei der Gesetzgebung erwarte, fürchte er eine Änderung in der Rhetorik. Die Regierung könne zudem eine ideologische Spur in der Bildung hinterlassen, indem sie beispielsweise bestimmte Lektüren vorschreibe.
Eine tiefgreifende Kursänderung in den Beziehungen zu den EU- und NATO-Partnern erachten die meisten Befragten kaum für möglich. Für Silvia und Rosatelli bleiben kleine Reibungen mit der EU nicht ausgeschlossen. Jedoch wurden „wichtige Ministerien mit moderaten und pro-europäischen Politikern besetzt“, erklärt Schieder. Das weise darauf hin, dass man nicht auf ernste Konflikte mit Berlin oder Brüssel aus sei. „Diese Regierung wird nationale Belange stärker vertreten als der deutsch-italienische Bilateralismus. Die Abhängigkeiten von der EU sind hinreichend stark und institutionalisiert, als dass mit dramatischen Beeinträchtigungen zu rechnen wäre.“
Und selbst wenn, wie lange wird diese Regierung diesmal durchhalten? Die Meinungen gehen auseinander. „Ein bisschen Stabilität“, sagt Jonas, „würde ich den Italiener:innen aber endlich wünschen.“
(*) Namen von der Redaktion geändert