Die Situation von Obdachlosen verschlimmert sich. Lange Wartelisten für Notunterkünfte zeigen: In Heidelberg fehlen Sozialwohnungen.
Eisige Temperaturen, Schneefall und gefrorene Straßen. Die Menschen packen sich in warme Kleidung und verbringen die Zeit lieber mit Heizung und Wärmflasche zuhause. Doch nicht alle haben die Möglichkeit, sich im Winter ins Warme zurückzuziehen. Die Wohnungsknappheit in Heidelberg und steigende Energiepreise werfen die Frage auf: Wie geht es obdachlosen Menschen in Heidelberg?
Wir sind zu einem Interview in der Plöck verabredet. Zwischen einem Bekleidungsgeschäft und einem Supermarkt befindet sich das Wichernheim. Hier können Wohnungslose stationär oder über Nacht eine Unterkunft finden. Im Eingangsbereich werden wir empfangen und zum Büro des stellvertretenden Leiters der Einrichtung geführt. Wir laufen durch graue Flure, an bunten Gemälden vorbei, bis zur Tür mit der Aufschrift „Pascal Drzonek“. Drzonek ist Sozialarbeiter und vielbeschäftigt – bis wir eintreten können, dauert es eine Weile.
„Die Warteliste der Einrichtung ist lang“, so Drzonek. Die Wohnungslosenhilfe verfügt über 70 stationäre Plätze und weitere Notfallbetten für sogenannte Durchwandernde. Vor Pandemiezeiten war davon immer mindestens ein Platz frei. „Früher haben wir die Leute relativ schnell unterbekommen. Doch die letzten drei Jahre ist es immer enger geworden“, erklärt der Sozialarbeiter. Recht auf einen Platz im Wichernheim haben laut dem stellvertretenden Leiter Menschen in besonderen Lebenslagen mit sozialen Schwierigkeiten. „Es muss eine Obdachlosigkeit vorhanden sein, die nicht aus eigener Kraft überwunden werden kann. Dafür gibt es verschiedene Faktoren, die in jedem Einzelfall abgewogen werden“, erklärt Drzonek. „Wem die Wohnung abfackelt, der eigentlich ein geregeltes Leben führt, braucht zwar eine Notwohnung, aber keinen Sozialarbeiter.
“In der Unterkunft sind alle Altersklassen vertreten, der jüngste Bewohner ist 18 Jahre alt, der älteste 80. Die Menschen kommen aus verschiedenen Gründen zur Wohnungslosenhilfe in der Plöck. Manche bringen langjährige Straßenerfahrung mit, andere müssen sich nach einem Gefängnisaufenthalt oder langjährigem Psychiatrieaufenthalt eingliedern. „Man muss sich vorstellen, was sich alles in der Welt verändert hat, wenn man die letzten 20 Jahre in Haft verbracht hat. Fahrkartenautomaten hatten damals noch Knöpfe, Telefone hatten Kabel“, erläutert der Betreuer. Auch Suchtprobleme, angehäufte Mietschulden oder psychische Erkrankungen seien Grund für Wohnungslosigkeit und die Suche nach einer Unterkunft im Wichernheim, so der Sozialarbeiter. Er spricht von einer multiplen Problemlage der Wohnungslosen: „Für alles gibt es Fachleute. Bei uns geht es aber um die Gemengelage.“ Er erklärt: „Wir sind in keinem Bereich spezialisiert. Immer dann, wenn es kompliziert wird, und mehrere Probleme aufeinandertreffen, landen Menschen bei uns in der Wohnungslosenhilfe.
“Rund 18 000 Menschen leben in Deutschland auf der Straße. Steigende Mietpreise und Energiekosten, die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns und die Inflation sorgen für finanzielle Engpässe. So häufen sich die Schulden und für die Monatsmiete reicht das Geld in vielen Fällen nicht. In Heidelberg kommt eine große Wohnungsknappheit hinzu. „Der Wohnungsmangel trifft mittlerweile schon durchschnittliche Familien. Wenn Vermieter ihre Wohnung weitergeben, sind Wohnungslose nicht die Priorität“, erläutert der Sozialarbeiter. Das größte Problem: „In Heidelberg fehlen Sozialwohnungen.
“Wohnungslosigkeit bedeutet, dass man zwar ein Dach über dem Kopf hat, jedoch nicht sein eigenes und nur temporär. Sie ist deshalb von Obdachlosigkeit zu unterscheiden. Unter Obdachlosigkeit versteht man die klassische Straßenobdachlosigkeit. Wohnungslose sind Menschen ohne eigenen Mietvertrag oder Wohnung. Das kann verschieden aussehen. So wohnen Wohnungslose beispielsweise in Notunterkünften und Einrichtungen, wie dem Wichernheim, oder kommen zum Beispiel bei Freunden unter. „Obdachlosigkeit beinhaltet Wohnungslosigkeit. Wenn Wohnungslose von Couch zu Couch pendeln, spricht man von versteckter Obdachlosigkeit“, erklärt der Sozialarbeiter. Davon seien insbesondere Frauen betroffen, die bei wechselnden Partnern unterkommen. „Frauen sind häufiger mit Gewalterfahrungen belastet. Häufig sind sie traumatisiert, weil sie für Wohnraum ausgenutzt wurden.
“Generell stellen Frauen im Wichernheim die Ausnahme dar. „Die Tendenz steigt jedoch“, erklärt Drzonek. Zwar verfügt die Einrichtung über zwei stationäre Dreier-WGs für Frauen und zwei weitere Plätze im Durchwandererbereich, mittlerweile seien diese Plätze jedoch meistens voll. Das Wichernheim arbeitet eng mit dem SKM zusammen. Der katholische Verein für soziale Dienste Heidelberg führt einen Frauenraum und eine Fachberatungsstelle, die auch von Frauen betreut werden. „Der Frauenraum ist ein engmaschiger Schutzraum“, erläutert Drzonek.
Das SKM ist eine Tagesstätte und Fachberatungsstelle für Obdachlose. Der Verein befindet sich in der Weststadt. Dröhnender Verkehr und Zuggleise liegen in der Nähe des hellen Betongebäudes der sozialen Hilfsorganisation. Die Buchstaben SKM sind an die Wand gesprüht. Wir sind zu einem Gespräch mit einem Mitarbeiter verabredet. An diesem kalten Nachmittag sitzen einige Menschen auf den Bänken im Hof, der an das Gebäude anschließt und unterhalten sich. In der Tagesstätte bei der Essensausgabe steht Moritz Römmer. Auch er ist Sozialarbeiter und seit über zwei Jahren in der Wohnungslosenhilfe tätig. Meist ist er als Aufsichtsbetreuer tätig, manchmal aber auch als Streetworker. Dann begibt er sich auf die Suche nach Obdachlosen auf der Straße, um ihnen zu helfen.
Römmer macht einen entspannten Eindruck; er trägt lockere Kleidung und nimmt sich Zeit. Er beginnt zu erzählen. In der Heidelberger Altstadt finde man nur wenige Obdachlose vor, weil sie aus der Altstadt vertrieben werden, so der Streetworker. Die Zahl der Obdachlosen in Heidelberg schätzen die Sozialarbeiter des Vereins auf 120. Davon seien zwar manchmal Einzelpersonen vorzufinden, aber größere Gruppen hielten sich eher im Stadtpark vor dem Kaufland auf. „Das Ordnungsamt hat etwas gegen größere Gruppen“, so Römmer. Außerdem sei in ganz Deutschland „aggressives“ Betteln verboten, das heißt, das Ansprechen von Passant:innen. Schilder seien da wahrscheinlich ein Graubereich.
„Manchmal bewegen sich Obdachlose in andere Städte, weil sie in der ursprünglichen Stadt Probleme mit den Leuten haben“, erklärt Römmer. In der neuen Stadt gebe es allerdings Schwierigkeiten, Sozialleistungen zu erhalten, denn erst nach sechs Monaten werde man Heidelberger:in.
„Die wenigsten wollen für immer auf der Straße bleiben“, erklärt Römmer. Hauptgründe dafür, dass Menschen dennoch länger auf der Straße leben, seien ein mangelndes soziales Netzwerk, psychische Schwierigkeiten und Drogen.
Die Kälte im Winter stellt für obdachlose Menschen eine besonders harte Herausforderung dar. In Heidelberg gibt es einen sogenannten Erfrierungsschutz von November bis April. In diesem Zeitraum können Obdachlose in einem Wohncontainer in Rohrbach von sechs Uhr abends bis acht Uhr morgens verbleiben. Momentan nächtigen dort circa zehn Personen, die so der kalten Jahreszeit nicht schutzlos ausgeliefert sind.
Für einen längeren Aufenthalt bietet das SKM im Karl-Klotz-Haus ein Dach über dem Kopf, Mittagessen und Kleidung. Hier können sich Obdachlose auch einen Briefkasten einrichten lassen. „Manche finden hier eine Ersatzfamilie“, so Römmer. Einen richtigen Alltag gäbe es allerdings nicht, jeder Tag sieht anders aus. Zwischen den „Sitzungen“, wie Römmer das Betteln bezeichnet, verbringen die meisten Obdachlosen Zeit im Stadtpark oder sind als Einzelgänger unterwegs. „In der Gruppe ist es sicherer“, erklärt er. „So kann man gegenseitig auf Gepäckstücke aufpassen und muss nicht allein sein. Es ist also auch psychologischer Schutz“, so Römmer.
Im Wichernheim in der Plöck sieht der Alltag anders aus. Für die stationären Bewohner:innen ist die Werkstatt Teil der Tagesstruktur. „Nach jahrelanger Strukturlosigkeit auf der Straße, weil man sich um Essen und Schlafplatz kümmern muss, ist es sinnvoll, sich wieder einen Tagesplan aufzubauen. Bei uns gibt es diese Möglichkeit“, erklärt Drzonek. Es ist ein besonderes Handwerk, dem sich die Wohnungslosen in der Werkstatt des Wichernheims widmen: „Seit 30 Jahren flechten wir hier Stühle. Das sogenannte Wiener Geflecht ist zwar schwer zu meistern, aber relativ schnell zu lernen.“ Den Heimleitern war es wichtig, den Heidelberger Handwerker:innen die Arbeit nicht weg zu nehmen. „Das Flechten von Stühlen ist ein aussterbendes Handwerk, zumal es eigentlich unbezahlbar ist. Wir verlangen nur das Geld für die Materialien.“ Wenn beide Seiten einverstanden sind, stellt das Heim den Kontakt zwischen Handwerker:in und Kund:in her. Drzonek findet: „Das ist immer ein schöner Moment, wenn die zwei aufeinandertreffen und ins Gespräch kommen.“ Verpflichtet ist jedoch niemand, an der Tagesstruktur teilzunehmen. Außerdem arbeitet das Wichernheim mit dem Jobcenter zusammen und vermittelt Arbeits- und Ausbildungsplätze.
Ebenso wichtig wie eine Tagesstruktur ist ein soziales Netzwerk. Laut Obdachlosenbetreuer Römmer gibt es auf der Straße keine Freundschaft: „Es ist eine Schicksalsgemeinschaft. Man bezeichnet sich untereinander als Kontakt“, so der Sozialarbeiter. Viel zu häufig werde man beklaut. Außerdem gebe es Schlägereien. Illegales Fahren, Ladendiebstahl oder Hausfriedensbruch seien jedoch die häufigsten Formen von Kriminalität unter Obdachlosen. Gelegentlich lande jemand im Gefängnis, weil er zu oft illegal die Bahn genommen hat. Frauen würden sich vor Kriminalität schützen, indem sie sich entweder in ihrem „Revier” hocharbeiten oder indem sie sich einen Beschützer holen, der hoch in der Hierarchie steht. Unter Obdachlosen bilden sich laut Römmer meist verschiedene Gruppen, beispielsweise nach Nationalitäten. Die meisten kommen aus Polen, Rumänien oder Ungarn.
Obdachlosigkeit ist häufig ein mit Scham behaftetes Thema. Mit Betroffenen konnten wir deshalb nicht sprechen. Die Besuche in den beiden Unterkünften haben uns dennoch viel gezeigt: In Heidelberg gibt es Wege aus der Obdachlosigkeit. Anlaufstellen, wie das Wichernheim und das SKM, bieten Schutzräume für Wohnungs- und Obdachlose. Römmer aber weiß: „Wir sind noch lange nicht dort, wo wir sein wollen.“ Den Alltag auf der Straße könne man nicht als Leben bezeichnen. „Es ist eher ein Überleben“, so der Sozialarbeiter.
von Carla Scheiff & Vanessa Pham
...interessiert sich für Kultur und Politik und studierte deshalb Germanistik im Kulturvergleich und Politikwissenschaften. Seit 2021 schrieb sie für den ruprecht und leitete Seite 1-3. Am liebsten widmet sie sich gesellschaftspolitischen Themen und Fragen, die unsere Generation bewegt.