Tutorium in Latein und du kommst nicht rein. Aber nicht, weil es keine Plätze mehr gibt, sondern weil die Tür zu klein für den Rollstuhl ist
Am 5. Mai, dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, stand zum 31. Mal deutschlandweit das Thema Barrierefreiheit im Zentrum. Auch auf dem Bismarckplatz in Heidelberg wurde an Infoständen, in Mitmachaktionen und durch eine Demonstration auf das Thema aufmerksam gemacht.
Der Tag erinnere und mahne an die Rechte behinderter Menschen, da es nach wie vor sehr vielen nicht möglich sei, aufgrund ihrer Behinderung am öffentlichen Leben teilzunehmen – so die Behindertenbeauftragte des Rhein-Neckar-Kreises Silke Ssymank. Es stehe nach wie vor die Beeinträchtigung und nicht der Mensch im Vordergrund – das verhindere gleichberechtigte Teilhabe.
Auch das Aktionsbündnis Inklusion rief an diesem Tag zu einer Kundgebung unter dem Motto „Zukunft Barrierefrei gestalten!“ auf. Auf ihren Plakaten stand etwa der Satz „Behindert kein Begriff für scheiße”. Die Forderungen des Bündnisses: Barrierefreiheit in Bus und Bahn, ein barrierefreies queeres Zentrum und das Zusammendenken von Barrierefreiheit und Denkmalschutz, statt diese auf dem Heidelberger Kopfsteinpflaster gegeneinander auszuspielen.
Doch woran scheitert die Barrierefreiheit in Heidelberg bislang? Czeslaus Mandalka sitzt im Beirat von Menschen mit Behinderungen im Ausschuss Stadtentwicklung und Bau. In der Altstadt liege das Scheitern oft am Denkmalschutz. Auch hier kommt das historische Kopfsteinpflaster nochmals zur Rede – „das ist Hölle.“ Martina Laurenz vom Verein zur beruflichen Integration und Qualifizierung e.V. arbeitet seit 2011 an Projekten zum barrierefreien Bauen – so auch am gemeinsamen Projekt „Heidelberg hürdenlos“. Dies ist eine barrierefreie Online-Datenbank in der bereits 1.400 Objekte in Heidelberg aufgenommen sind. Hier werden Informationen über die Zugänglichkeit von öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung aufbereitet und zur Verfügung gestellt. Besonders in der Altstadt gäbe es viele sogenannte „Bestandsgebäude”, die einen besonderen Schutz genießen – sie müssen nicht barrierefrei umgebaut werden, es sei denn man nimmt große Veränderungen vor . Teilweise sind auch Unigebäude im Online-Stadtführer dabei – aber man durfte bis jetzt bei weitem nicht alle aufnehmen. Beim Uniklinikum beispielsweise musste Frau Laurenz für diese Erlaubnis erst vor ein Komitee.
In der Kategorie „Universität und Hochschule” sind hier 32 Einträge zu finden. Für Rollstuhlfahrende und Gehbehinderte sind davon 19 teilweise barrierefrei und nur ein einziges ist für diese Personen vollständig barrierefrei. 17 der Gebäude enthalten Informationen für gehörlose und hörbehinderte Menschen und immerhin 31 sind mit Informationen für sehbehinderte und blinde Menschen ausgestattet.
Ironischerweise schneidet das Universitätsbauamt Heidelberg selbst am schlechtesten ab. Es ist nicht im Geringsten barrierefrei.
Für Studierende mindestens ebenso wichtig wie barrierefreie Hörsäle, dürfte die Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr sein. Diese hätte letztes Jahr umgesetzt sein sollen, berichtet Christina Reiß, „aber wenn Sie sich hier umschauen, sind wir ja noch ein Stück weg davon” erklärt die kommunale Behindertenbeauftrage der Stadt Heidelberg. In ihrem Arbeitsalltag komme Frau Reiß sehr sporadisch mit Studierenden in Kontakt. Sie habe das Gefühl, dass Stadtgesellschaft und Universität oft zwei Paralleluniversen sind und viele Studis sich erstmal nicht viel mit der Stadt beschäftigen. Im Uni Kontext sei schließlich auch durch das Team inklusives Studieren bereits eine besondere Anlaufstelle geschaffen.
Christoph Schlomach ist seit August 2022 Beauftragter für chronisch Kranke und Studierende mit Behinderung. Mit seinem Team arbeitet er daran, Teilhabe von Studierenden an der Uni Heidelberg zu ermöglichen und entsprechende Strukturen zu schaffen. Hierbei spielt Netzwerken für ihn eine besondere Rolle, daher steht er in regem Austausch mit verschiedensten engagierten Personen der Universität. „Wenn jeder ein kleines Feuerchen entfacht, bringt das nicht so viel, aber wenn wir gemeinsam große Flammen schlagen, kommen wir weiter”, so Schlomach.
Vicky Engels ist Beauftragte für die Belange chronisch kranker und behinderter Studierender der verfassten Studierendenschaft und beschäftigt sich auf studentischer Ebene mit den Belangen chronisch kranker und behinderter Studierender. Sie sieht einen besonderen Mehrwert darin, dass so auch ein niedrigschwelliges Angebot geschaffen wird. Es koste nunmal weniger Überwindung sich in einem ersten Schritt an die Studierendenvertretung zu wenden. Engels sieht ihre Aufgabe darin Awareness zu schaffen, Sensibilisierung zu bewirken, aber auch Studierenden klarzumachen, dass sie angesprochen sind und Hilfe bekommen. „Unser Bild von Studierenden mit Behinderung ist oft die Person im Rollstuhl, aber das sind tatsächlich die wenigsten” stellt Engels klar. Nach der neusten Sozialerhebung befinden sich unter allen Studierenden mit studienerschwerender Beeinträchtigung etwa 65%. mit psychischen Beeinträchtigungen. Die unsichtbaren Erkrankungen machten unter chronisch kranken und behinderten Studierenden etwa 96% aus – also nimmt man die große Mehrheit dieser Studierenden nicht auf den ersten Blick als Personen mit Behinderung oder Erkrankung wahr.
Die aktuellen Bemühungen der Universität im Kontext der Inklusion und Barrierefreiheit bewertet Schlomach optimistisch. Man müsse immer klarstellen, dass man keine Kurzstrecke laufe, sondern einen Marathon. „Wir sind dabei Strukturen zu schaffen, das ist natürlich ein weiter Weg an einer Uni die 1386 gegründet worden ist, aber dafür sind wir schon weit gekommen“ berichtet Schlomach. Die Umgestaltung von Strukturen und Prozessen erfordert an einer großen Universität wie Heidelberg natürlich intensive Arbeit. Derzeit wird etwa eine ganzheitliche Herangehensweise mit Fokus auf Beratung umgesetzt. Vor Herbst letzten Jahres beschäftigte sich das „Handicap-Team” eher aus einer juristischen Perspektive mit der Thematik. „Für uns steht die Behinderung nicht mehr im Zentrum, sondern die Studierenden und ihre Teilhabe” – daher nun auch das Rebranding als „Team Inklusion”.
Zur Gebäudesituation an der Universität stimmen Schlomach und Engels zu, dass es oft aufgrund von Denkmalschutz oder sonstigen gesetzlichen Hürden schwierig sei, inklusiv zu bauen. Häufig würde auch bei barrierefreien Bauvorhaben die sonstige Teilhabe nicht mitgedacht. So kommen etwa mobilitätseingeschränkte Personen vielerorts zwar ins Gebäude, finden dort aber keine ihren Bedürfnissen entsprechende Toilette vor. Christoph Schlomach fügt hinzu, dass die Uni nicht nur aus Gebäuden und Lehrenden besteht, sondern auch aus ihren 30.000 Studierenden. Wenn man also eine Lerngruppe organisiert, könne man versuchen diese an einem Ort und auf eine Art und Weise zu planen, die möglichst viele Kommiliton:innen einschließt. Dabei geht es eben nicht nur um physische Zugänglichkeit, sondern auch einfach darum reizintensive Situationen zu vermeiden oder angenehme Atmosphären zu schaffen.
Wie auch Frau Reiß wirbt Schlomach für mehr studentisches Engagement. Natürlich sei man eventuell nur für einen Bachelor von drei Jahren in Heidelberg, natürlich löse man in dieser Zeit nicht alle Probleme. Aber hier greife wieder der Marathongedanke: in drei Jahren kann man einiges für nachfolgende Generationen verbessern.
Ein weiteres zentrales Thema für beide ist mentale Gesundheit. Hier gibt es bereits verschiedene Projekte an der Universität wie etwa das Mental Health First Aid Programm. Schlomach arbeitet daran, diese Kurse, welche vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim angeboten werden, auch an der Uni Heidelberg anzubieten. „Das Thema Sensibilisierung klingt immer so klein, ist aber gleichzeitig so unglaublich wichtig, gerade bei dem, was wir nicht auf den ersten Blick wahrnehmen können”, fügt Engels hinzu.
Außerdem wurde die AG Barrierefreiheit geschaffen, wo Betroffene, interessierte Lehrende und Verwaltungsmitglieder zusammenkommen, um sich auszutauschen. Die AG findet online statt und ist offen für alle Universitätsmitglieder.
Insgesamt weiß man in der Beratung von etwa 4.800 Studierenden, also 16%, die Unterstützung bräuchten. Im letzten Jahr haben sich rund 160 Personen beim Team Inklusion gemeldet – die momentane Auslastung sei zu dritt also noch gut zu bewältigen. In vielen Fällen geht es hierbei jedoch nicht um einige wenige Beratungsgespräche. Studierende mit chronischen Erkrankungen und Behinderung werden vom Team oftmals durch ihr gesamtes Studium begleitet. Man könne nicht alle Probleme lösen, aber häufig geht es auch einfach darum an richtige Stellen zu verweisen, wie beispielsweise an Fachstudienberater:innen.
Eine letzte große Rolle in der Inklusionsarbeit spielen Nachteilsausgleiche. Diese sind an unserer dezentralen Uni sehr komplex, weshalb das große Ziel des Team Inklusion Prozessoptimierung lautet. Frau Engels merkt darüber hinaus an, dass die Beantragung eines Nachteilsausgleichs auch oft schambehaftet sei, etwa bei Reizdarmerkrankungen oder Morbus Crohn. „Man muss sozusagen all seine Defizite offenlegen.” Es gehe in der Beratung darum, gemeinsam herauszufinden, wie geholfen werden kann. Es gehe darum Mut zu finden sich bei allen Arten von Erkrankungen zu melden und vor allem darum sich selbst nicht als kaputt wahrzunehmen.
Schlomach reflektiert seine Arbeit seit August letzten Jahres insgesamt positiv: In allen Fällen habe man bei den Instituten „offene Türen eingerannt”. Man habe das Gefühl, die Extrameile werde gerne gelaufen.
Für die Zukunft zeigen sich Schlomach und Engels optimistisch. Es wäre bereits ein großer Schritt, wenn in den verschiedenen Fächern proaktiv eingebunden würde, denn das Team Inklusion erfährt oft erst im Nachhinein von Situationen, in denen Verbesserungsbedarf besteht. Nachträglich gestaltet sich Verbesserung immer schwieriger, als wenn unterschiedlichste Menschen von Beginn an mitgedacht werden. Doch die Thematik wird immer bekannter und Studierende wie Lehrende ihr gegenüber immer offener. In der zweiten Oktoberwoche – passend zum weltweiten Mental-Health-Day am 10. Oktober – wird derzeit eine ganze Awareness Week mit Vorträgen, Workshops und vielem mehr geplant.
Weitere Informationen zum Beratungsangebot sind auf der Website Inklusives Studieren zu finden. Außerdem können sich Interessierte Studierende in den „Community“ Moodle-Kurs für übergreifenden Austausch selbst einschreiben.
Was kann nun also jede:r Einzelne tun, um zur Barrierefreiheit beizutragen? Christina Reiß glaubt das Wichtigste sei einfach, dass man ein offenes Herz hat. Auch Vicky Engels ist sich sicher: “Wenn wir alle den Blick offenhalten, auch wenn das nur heißt mal eine Tür offen zu halten, dann können wir weit kommen.”
Von Emily Burkhart
...studiert Politikwissenschaften und Soziologie an der Universität Heidelberg und schreibt seit Oktober 2022 für den ruprecht. Sie interessiert sich besonders für das aktuelle politische Geschehen, sowie für alles rund um das studentische Leben in Heidelberg.