Der 8. Mai ist der Tag der Befreiung, doch in Heidelberg endete die Nazi-Herrschaft bereits Wochen früher. Eine Chronik der letzten Kriegstage am Neckar: Wie eine Schlacht um Heidelberg vermieden wurde
Bis März 1945
Während der nationalsozialistischen Herrschaft werden in Heidelberg jüdische Geschäfte und Häuser zerstört, die Synagoge in der Großen Mantelgasse wird niedergebrannt. Hunderte Heidelberger Juden und Jüdinnen sowie Sinti und Roma werden in die Konzentrationslager von Dachau oder Gurs deportiert. An der Universität wird ein Drittel der Lehrenden aus politischen oder antisemitischen Gründen entlassen, jüdischen Student:innen sind Immatrikulation und Benutzung der Universitätsbibliothek verboten. Wer studieren will, muss Mitglied in der NSDAP werden. Nach Kriegsbeginn 1939 wird der Universitätsbetrieb eingeschränkt. Über dem Universitätsplatz, auf dem Bücherverbrennungen stattgefunden haben, hängen Hakenkreuzfahnen. Im Jahr 1944 werden 21 Insass:innen der Heidelberger Psychiatrie ermordet.
Am 6. Juni 1944 eröffnen die Alliierten mit der Landung in der Normandie eine zweite Front gegen Nazi-Deutschland. Anfang März 1945 überqueren amerikanische Einheiten erstmals bei Remagen im heutigen Rheinland-Pfalz den Rhein. Das Interesse der Westalliierten gilt der Mitte Deutschlands und dem Ruhrgebiet, der Südwesten ist nur Nebenschauplatz. Heidelberg ist bis auf eine Flug-*abwehrstellung am Bismarckplatz militärisch kaum von Bedeutung. Es befinden sich nur noch wenige deutsche Soldaten in der Stadt, viele Gebäude in der Altstadt werden zur Versorgung von Kranken und Verletzten genutzt.
25. März
Die Front in Südwestdeutschland verläuft entlang des Rheins. Alle Brücken über den Fluss wurden von der Wehrmacht auf dem Rückzug zerstört. In der Nacht auf den 26. März startet die US Army bei Worms eine groß angelegte amphibische Landungsoperation und errichtet einen Brückenkopf am rechten Rheinufer – eine erste Stellung auf der deutschen Seite des Flusses und Ausgangspunkt für weitere Operationen. Ihre absolute Luftherrschaft erleichtert den Alliierten den Vormarsch.
26. März
In Heidelberg verlässt Universitätsrektor und SS-Oberführer Paul Schmitthenner fluchtartig die Stadt.
Die amerikanischen Truppen erobern die Mannheimer Stadtteile nördlich des Neckars. Pioniere errichten schwere behelfsmäßige Brücken aus Schwimmkörpern über den Rhein: Über die Pontonbrücken können Panzer, Artillerie und eine große Zahl Infanteristen den Fluss überqueren. Allein die 44th Infantry Division umfasst etwa 11.000 Mann, doch dies ist nur ein Teil der amerikanischen Streitkräfte vor Ort.
28. März
In Vorbereitung auf einen Angriff der Infanterie nehmen amerikanische Panzerverbände das Gebiet der Mannheimer Innenstadt quer über den Neckar unter Beschuss. Zu diesem Zeitpunkt ist die Stadt bereits weitgehend durch die britischen und amerikanischen Luftangriffe der vorangegangenen Jahre zerstört.
29. März
Die Einnahme von Mannheim endet mit einer Waffenruhe. Die amerikanischen Soldaten in Mannheim versuchen, telefonisch Kontakt zur Heidelberger Stadtverwaltung und dem Oberbürgermeister Carl Neinhaus aufzunehmen.
Der amerikanische Kommandeur William A. Beiderlinden schlägt eine friedliche Übernahme Heidelbergs vor. Als Bedingung nennt er den Rückzug der Artillerieverbände, die er fälschlicherweise noch in Heidelberg vermutet. Sollten die Heidelberger:innen nicht auf den Vorschlag eingehen, würde die Stadt um 20 Uhr angegriffen werden. Das entspricht der amerikanischen Standardprozedur: Frontstädten wird vor einem Angriff die Möglichkeit zur kampflosen Übergabe gegeben. Parallel zum Angebot der Kapitulation rücken amerikanische Einheiten zu beiden Seiten des Neckars in das Gebiet zwischen Heidelberg und Mannheim vor. Im Süden kommt es bei Schwetzingen zu schweren Kämpfen mit deutschen Verbänden. Zugleich erreichen amerikanische Panzer über den Odenwald kommend bei Hirschhorn den Neckar östlich von Heidelberg.
29. März, Nachmittag
Im Rathaus wird eine Delegation zusammengestellt, welche die Übergabeverhandlungen der Stadt leiten soll. Darunter sind der Dekan der medizinischen Fakultät und der Kommandeur der Heidelberger Lazarette. Das Treffen verzögert sich auf 21 Uhr. Treffpunkt mit den Amerikanern ist eine Landstraße zwischen Dossenheim und Handschuhsheim. Mit Kapitulationsverhandlungen ist in diesen letzten Tagen des Krieges ein großes Risiko verbunden: Die „Führerbefehle“ aus Berlin sehen vor, dass jede Ortschaft bis zum letzten Mann verteidigt wird. Dagegen zu handeln, kann eine Hinrichtung bedeuten. Dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist, spielt keine Rolle.
Währenddessen plant die verbleibende Wehrmacht, um 21 Uhr die letzten Heidelberger Brücken zu sprengen, darunter auch die Alte Brücke. Militärisch ist die Aktion wenig sinnvoll, denn die US Army steht bereits auf beiden Seiten des Flusses, doch die Sprengung entspricht der von Hitler befohlenen Taktik der „verbrannten Erde“: Dem Feind dürfe keinerlei intakte Infrastruktur in die Hände fallen. Der Oberbürgermeister stellt sich dagegen und versucht, die Wehrmacht von den Sprengungen abzuhalten, während die Delegation über die Friedrichsbrücke, die heutige Theodor-Heuss- Brücke, zu den Kapitulationsverhandlungen aufbricht.
29. März, später Abend
Die US Army bringt die Delegation an den Ort, an dem die Verhandlungen stattfinden sollen. Ob das der Gefechtsstand der 44th Infantry Division in Lampertheim ist oder ein Bauernhof bei Käfertal, lässt sich nicht rekonstruieren. Die Verhandlungen sind schwierig: Die Amerikaner verlangen die bedingungslose Kapitulation, doch den Deutschen fehlt die Befehlsgewalt. Die Amerikaner kündigen an, am nächsten Morgen friedlich einzurücken und warnen vor Gegenwehr. Diese Botschaft soll die deutsche Delegation zurück nach Heidelberg bringen.
30. März (Karfreitag), 3:00 Uhr
Als die Delegation den Neckar erreicht, steht sie vor zerstörten Brücken. Der Oberbürgermeister Carl Neinhaus war nicht erfolgreich.
Einige Delegationsmitglieder sind verletzt, denn die Männer gerieten auf dem Rückweg unter amerikanisches Artilleriefeuer, und der Neckar führt Hochwasser. Die rechtzeitige Warnung vor dem Einmarsch der Amerikaner scheint unmöglich.
Nach langer Suche findet die Delegation die 16-jährige Anni Tham, welche die Verhandler unter Beschuss in ihrem Paddelboot an das andere Ufer übersetzt.
30. März, 7:30 Uhr
Wie angekündigt nähern sich die amerikanischen Truppen aus mehreren Richtungen dem Stadtzentrum. Die 63rd Infantry Division rückt aus Norden in Handschuhsheim und Neuenheim ein und erreicht um 7:30 Uhr das Neckarufer. Vom Süden her nähert sich die 10th Armored Division, eine Panzerdivision.
Es kommt zu vereinzelten Gefechten: Am Bergfriedhof leisten einige SS-Mitglieder Widerstand und im Marstallhof trifft die US Army auf eine verschanzte Gruppe der Hitlerjugend. Im „Official Report of Operations“ der Amerikaner heißt es trotzdem: „The city of Heidelberg surrendered without a fight.“ Damit ist der Krieg in Heidelberg beendet.
31. März
Bei Speyer und Germersheim überquert französische Infanterie den Rhein. Nun sind Soldaten zweier alliierter Mächte in der Region.
Ab April 1945
Die 63rd Infantry Division errichtet in Heidelberg ihren Gefechtsstand. Auf Höhe des Bismarckplatzes entsteht eine Pontonbrücke und der Großteil der US-Soldaten zieht schnell weiter, neckaraufwärts wird gekämpft. Der Krieg ist für Nazi-Deutschland zwar längst verloren, doch erst am 8. Mai 1945 kommt es zur Kapitulation.
In Heidelberg richtet die US Army Stützpunkte ein, welche den Krieg und die Gründung der Bundesrepublik lange überdauern werden: Die letzten US-Soldaten verlassen die Stadt im Jahr 2013.
Von Kaisa Eilenberger, Nicolaus Niebylski und Mara Renner
Nicolaus Niebylski studiert Biowissenschaften. Beim ruprecht ist er seit dem Sommersemester 2017 tätig – meist als Fotograf. Er bevorzugt Reportagefotografie und schreibt über Entwicklungen in Gesellschaft, Kunst und Technik. Seit November 2022 leitet er das Ressort Heidelberg. Zuvor war er, beginnend 2019, für die Ressorts Studentisches Leben, PR & Social Media und die Letzte zuständig, die Satireseite des ruprecht.
...studiert seit dem WiSe 2021 im Bachelor in Geschichte und Religionswissenschaft – beim ruprecht ist sie seit Studienbeginn, hat zwischendurch Hochschule mitgeleitet und ist zurzeit im Layout-Team. Bei Gelegenheit produziert sie auch Illustrationen für Artikel und schreibt am liebsten über Medien und internationale Themen.
...studiert Kunstgeschichte und Politikwissenschaft, seit 2021 schreibt sie über Kurioses aus Politik, Kultur und dem studentischen Leben