Spießbürgertum lässt Aufführung sitzen
Es ist ein milder Samstagabend, Anfang Mai. Im Maguerre-Saal in der Altstadt präsentiert das Theater und Orchester Heidelberg im Rahmen des 40. Heidelberger Stückemarkts ein schwedisches Gaststück. „Ambulans“ heißt es, Paula Stenström Öhmann führt Regie und aufgeführt wird es in Originalsprache mit deutschen Übertiteln. Das trägt zwar nicht zum inhaltlichen Verständnis bei, doch die Botschaft wird auch ohne Worte klar. Auf anspruchsvolle Weise übt das Stück Gesellschaftskritik und nimmt besonders Gewalt von Männern in den Blick.
Im Gegensatz zu mir hat die Mehrheit der Theatergäste für dieses Stück eine Karte in Höhe von 16 Euro oder mehr erworben. Unter ihnen sind viele, die sich in Erwartung einer gehobenen Abendunterhaltung in eleganter Garderobe vor dem Theater einfinden. Ihr Alter eint sie alle: Es liegt bei 50 Jahren oder darüber. Es besteht kaum Zweifel daran, dass sie bis auf wenige Ausnahmen zur wohlhabenden Schicht Heidelbergs gehören. Und doch, so scheint es, fehlt es ihnen an Anstand, denn ein großer Teil von ihnen kehrt nach der Pause nicht wieder in den Vorstellungssaal zurück. Der hohe Anspruch des Stücks – auch ich habe in der Pause Google um Erklärung fragen müssen – sollte doch gerade für sie kein Grund sein, die Vorstellung vorzeitig zu verlassen. So sagt dieser Umstand viel mehr über die Gäste aus als über das Stück selbst.
Wieso also verlässt fast die Hälfte des Theatersaals die Aufführung in der Pause? Kann die „Heidelberger Schickeria“ etwa kein Theater? Hat sie es überhaupt verstanden? Passte womöglich die Kritik nicht in ihr von Wohlstand geprägtes Weltbild? Zum guten Ton gehört ein frühzeitiges Verlassen des Theaters mit Sicherheit nicht. Respekt und Etikette sind lediglich zwei gute Gründe, um der Inszenierung bis zum Ende eine Chance zu geben, auch wenn sie nicht ganz dem eigenen Geschmack entspricht.
Als ich mich nach dem Ende der Vorstellung in Richtung meines Fahrrads bewege, laufen zwei Herren zu ihrem Porsche Cayenne. In typischer Fußball-Manier ziehen sie das Fazit, dass die zweite „Halbzeit“ doch deutlich besser gewesen sei als die erste. Es passt ins Bild.
Ein Kommentar von Emilio Nolte
...studiert Volkswirtschaft und schreibt seit dem Sommer '23 für den ruprecht. Er ist ein Freund der pointierten Kolumne und leitete einst die Seiten 1-3.