In der Heidelberger Sammlung Prinzhorn werden Werke von Psychiatrieerfahrenen ausgestellt, aktuell auch von Elfriede Lohse-Wächtler. Wie zeitgemäß ist die Präsentation als „Außenseiter“-Kunst?
Die Eine produziert im manischen Versuch, die Welt vor bösen Mächten zu retten, insgesamt über eine Millionen bemalte Blätter, der Andere vergisst seine Wutanfälle, wenn er ungestört an seinen Skulpturen arbeiten kann. Ein Dritter will sich nach einer Vision in ein Perpetuum Mobile verwandeln und schafft Bilder von eigenwilliger, weithin faszinierender Rätselhaftigkeit. All diese Künstler:innen eint, dass ihre Werke lange nicht als Kunst angesehen wurden.
Hans Prinzhorn, Kunsthistoriker und Mediziner, war wohl einer der Ersten, der die bis dahin nur für diagnostische Zwecke genutzten Werke von Psychiatriepatient:innen auch unter ästhetischen Gesichtspunkten wertschätzen konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg baute er eine bereits existierende Kunstsammlung, die zeitgenössisch „Irrenkunst“ genannt wurde, zum Grundstock der heute international bekannten Sammlung Prinzhorn aus.
Die Werke blieben die gleichen, die Welt um sie herum veränderte sich. Und mit ihr auch die Perspektive auf die Kunst. In den ersten Jahren begeisterte der Charakter der Werke, der das Unbewusste enthüllt, das Publikum. Nicht zuletzt lag das auch am Einfluss der damals populären Psychoanalyse. Die Rezeption wandelte sich jedoch nachfolgend bis hin zur nationalsozialistischen Verbannung von angeblich „entarteter“ Kunst. Die Sammlung Prinzhorn bewegt – bis heute.
Besonders spannend scheint folglich der Blick der heutigen Gesellschaft auf die Ausstellung: Wie zeitgemäß ist es, ausschließlich Kunst von Psychatrieerfahrenen zu präsentieren – in ebendiesem Kontext? Befeuert man damit nicht viel mehr die alten Stereotype von Genie und Wahnsinn, statt einer Randgruppe eine Stimme zu geben? Die Frage, ob diese Gratwanderung nicht zu oft in eine Reproduktion überholter Denkmuster führt, verneint der Sammlungsleiter Thomas Röske. Als studierter Psychologe und Kunstwissenschaftler spricht er der Ausstellung vor allem die Rolle der Entstigmatisierung psychisch Kranker zu.
Insgesamt hat in diesem Bereich seit Prinzhorns Tagen tatsächlich ein gesellschaftliches Umdenken stattgefunden. Die Werke der Sammlung werden im Kontext der sogenannten „Outsider Art“ ausgestellt, die alle Künstler:innen umfasst, welche sich außerhalb der künstlerischen Tradition und des Kunstbetriebs generell befinden. Zusätzlich hat sich der Blick jedoch auf die zahlreichen anderen Perspektiven geweitet, die die Kunst der Psychiatrieerfahrenen bieten kann:
Viele der Werke werden heute auch in anderen Ausstellungen in einem neuen Kontext präsentiert. Kunst am Rande der Kunst nennt sie Röske. Studierende der Universität Heidelberg bekommen kostenlos die Möglichkeit, sich dieser zu öffnen. Momentan gibt es zusätzlich zur Dauerausstellung auch Werke von Elfriede Lohse-Wächtler zu sehen. Als eine Künstlerin des 20. Jahrhunderts hat sie sowohl eine starke eigene Stimme im Stil der Neuen Sachlichkeit gefunden als auch einfühlsame Portraits ihrer Mitpatient:innen aus zwei Psychiatrieaufenthalten geschaffen. 1940 wurde sie während des Euthanasieprogramms von den Nationalsozialist:innen umgebracht. Ihre Werke kann man noch bis zum 20. August in einer Sonderausstellung betrachten.
Von Anneliese Heindel und Anne Steiner
Anneliese Heindel studiert offiziell Jura und versucht sich an Ethnologie. Beim ruprecht steht sie für presserechtliche Fragen zur Verfügung und schreibt seit Herbst 2022 über alles Faszinierende und was sie sonst so loswerden möchte.