Minvydas Bisigirskas ist Performancekünstler und seit einigen Jahren als Patricia Piccante in der Heidelberger Drag-Szene bekannt. Während der Pandemie rief der litauische Künstler den Online Drag Contest ins Leben und erweitert seitdem mit seinen futuristischen Performances die Vorstellung von Drag. Von Herausforderungen und Chancen in Heidelberg und seinen zukünftigen Plänen erzählt er unserer Redakteurin Mara Renner.
Wer bist du?
Ich bin Patricia Piccante, aber eigentlich heiße ich Minvydas Bisigirskas, ein Name, der beim Arzt wie beim Stromanbieter für Verwirrung sorgt. Ich bin hier in der Heidelberger Drag-Szene aktiv und Teil des dreiköpfigen Kollektivs Quarteer. Ursprünglich komme ich aus Litauen, bin in Italien aufgewachsen und lebe nun seit 8 Jahren in Heidelberg. Ich habe hier Anglistik studiert und meine Masterarbeit über Drag geschrieben, man könnte also sogar sagen, ich habe Drag studiert.
Wie bist du zum Drag-Artist geworden?
Angefangen hat es mit einer roten Perücke und kleinen Performances für Freunde. Auf dem Christopher Street Day in Mannheim hatte ich diese rote Perücke dann auch an und bin mit einer fremden Person ins Gespräch gekommen, die meinte, ich sehe ihrer Freundin Patricia ähnlich. Von da an war ich Patricia. Piccante schlug mir ein Freund, der damals in einem italienischen Restaurant arbeitete, bei einem Bier vor. 2019 gab es dann den ersten Drag Contest in Heidelberg, „Heidelberg Crowned“, bei dem ich den zweiten Platz gewonnen und viele Leute aus der Heidelberger Drag Szene kennengelernt habe. Seit einiger Zeit experimentiere ich mit den unterschiedlichen Facetten von Drag. Normalerweise sind Männer Drag Queens und Frauen Drag Kings, aber das finde ich langweilig. Ich will diese Grenzen lieber sprengen.
Was ist an der Drag-Szene in Heidelberg besonders?
Ursprünglich waren wir sehr wenige Drags in Heidelberg, wir haben mit einer Whatsapp-Gruppe von sieben Personen angefangen. Die Szene ist aber schnell gewachsen und sehr bunt gemischt. Besonders ist, dass es in Heidelberg so viele Drag Kings gibt. In anderen Städten wissen die teilweise gar nicht, was ein Drag King ist. Die sind halt nur Drag Queens gewohnt, weil sie das aus den Medien wie „Rupauls Drag Race“ kennen. Das schaue ich zum Beispiel gar nicht. Mir ist scheißegal, wer da gewinnt. Die Sendung hat viel Sichtbarkeit geschaffen, aber am Ende geht es da um Marketing und um Geld. Was im Underground oder in den lokalen Szenen passiert, ist viel spannender.
Das heißt, du hast gleichzeitig studiert und Drag gemacht?
Und gearbeitet – 20 Stunden die Woche! Das funktioniert nur mit viel Planung. Je mehr man plant, desto mehr Zeit hat man. Das war schon anstrengend: Uni, Arbeit und am Wochenende Drag. Aber es hat sich gelohnt, am Schluss habe ich auch meine Masterarbeit über die Komplexität von Drag-Identitäten geschrieben. In Litauen hätte ich mich das vielleicht nicht getraut, aber in Heidelberg wurde ich von meiner Dozentin sehr unterstützt. Drag-Identitäten sind sogenannte nicht-permanente Identitäten. Mich interessierte dabei vor allem, was Drag für andere bedeutet. Das ist völlig individuell, für manche ist es Verwandlung, für andere Selbstverwirklichung oder Erweiterung des Selbst. Drag kann helfen, sich selbst besser zu verstehen und gleichzeitig die Möglichkeit geben, ein komplett neuer Mensch zu sein – vielleicht mutiger und stärker als man im echten Leben ist.
Und was bedeutet Drag für dich?
Für mich selbst ist Drag mittlerweile nicht mehr Genderperformance, sondern ein Sprung ins performative Leben. Ich will Geschichten erzählen und Figuren zum Leben erwecken – wie im Theater. Ich war schon immer von Frauenfiguren in Videospielen fasziniert. Starke, tapfere Frauen wie Lara Croft in „Tomb Raider“ oder Alice aus „Resident Evil“. Irgendwie immer Frauen, die Hosen trugen. Deren Stärke hat wiederum mich selbst empowered. Ich habe, als ich mit Drag angefangen habe, vielleicht nur ein- oder zweimal ein Kleid getragen, ich mag lieber Hosen. Ich dachte „Warum nicht? Frauen müssen nicht immer Kleider tragen, das ist auch wieder nur ein Stereotyp.“
Seit der Corona Pandemie veranstaltest du den Online Drag Contest, wie kam es dazu?
Ich dachte mir: Ok, ich kenne mich ein bisschen aus mit Streaming, ich liebe Drag und ESC, vielleicht kann ich das alles verbinden. Die Idee war ein kleines Drag Online Festival mit einem Voting System. Als die Infrastruktur erst mal stand, habe ich angefangen, Teilnehmer:innen zu suchen. Dieses Jahr hatten wir bereits den fünften Drag Contest. Darüber habe ich ganz viele Drags aus aller Welt kennengelernt. Drag ist politisch und Drag ist Kunst, aber am Ende des Tages ist es auch eine Art, sich zu vernetzen. Da ist viel Solidarität und gegenseitige Unterstützung.
War der Online Drag Contest auch eine Antwort auf fehlende queere Räume in Heidelberg?
Auf jeden Fall. In Litauen gibt es Gay Clubs, die verantstalten einmal im Monat eine Drag Show. Sowas gibt es hier nicht. Darum gehen viele Heidelberger Drags eben nach Mannheim. Der neue Queerspace im alten Karlstorbahnhof sollte keine permanente Lösung sein, dafür ist er zu klein. Da kann man höchstens ein Drag Bingo machen. Und im Karlstorbahnhof werden halt vor allem internationale Performer gebucht. Für die lokalen Queens bleiben da nur die Krümel übrig und die Kings werden erst recht ignoriert, das finde ich komplett inakzeptabel. Wir haben halt nicht genug Follower auf Instagram und bringen kein Geld, und darum geht’s am Ende.
An was arbeitest du aktuell?
Ich weiß nicht, wie viel ich schon verraten kann. Ich will auf jeden Fall mehr in Richtung Theater gehen, längere Performances mit durchdachten Kostümen machen. Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat mich sehr aufgewühlt. Kurz danach habe ich die Figur der Petrolia entwickelt, eine düstere Version von Patricia Piccante. Statt schönem Make-up hat sie schwarzes, öliges Contouring. Petrolia ist meine Antwort auf den Krieg in der Ukraine, einem Land, dem ich mich sehr verbunden fühle. Ich habe all meine Emotionen in diese Figur gesteckt, und darauf will ich aufbauen. Wenn ich in Zukunft so weitermachen kann, wäre ich zufrieden. Ich will kein Superstar werden.
Was ist Quarteer?
Quarteer ist eine Gruppe von Freunden, Nele Bianga, Georgijs Skorodumovs und mir, wir machen gemeinsam verschiedene Projekte im Bereich bildende Kunst und Performance. Wir denken oft ähnlich und stecken viel Recherche in unsere Arbeit. Mir geht es nicht darum, wie viele Stunden man mit Strasssteinen verbringt, um schön auszusehen. Ich will nicht schön aussehen, ich will eine Geschichte erzählen. Erst kürzlich hatten wir zusammen einen Auftritt auf der Queerlactica in Mannheim, in der es um Natur und Technologie in der Zukunft ging. Im Hintergrund haben wir immer die Frage „Macht das Sinn? Hat das Tiefgang?“. Quarteer ist das beste, was in meinem Leben passiert ist.
Was sollte mehr Menschen beschäftigen?
Unsere Welt, die Natur. Ich finde, wir sollten alle ein bisschen mehr die Natur beobachten – egal ob Sonnenuntergang oder kleine Dinge wie das Fliegen der Insekten. Denn nur durch Achtsamkeit kann man fühlen, wie vielfältig und lebendig unsere Erde ist.
Das Interview führte Mara Renner
...studiert Kunstgeschichte und Politikwissenschaft, seit 2021 schreibt sie über Kurioses aus Politik, Kultur und dem studentischen Leben