Lange Zeit lagerten sie in einem Zürcher Banktresor. Jetzt, mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod, erscheinen Max Frischs Berliner Aufzeichnungen in Buchform
Berlin, Februar 1973. Max Frisch bezieht seine neue Wohnung im Stadtteil Friedenau, Sarrazinstraße 8. Um die Ecke wohnen Grass und Johnson. In seiner Heimatstadt Zürich hält Frisch es nicht mehr aus, er braucht Abwechslung. Vom Berliner Klima verspricht er sich großstädtische Anonymität und neuen Antrieb zum Schreiben. Doch schon nach wenigen Tagen merkt er: Mit der Anonymität ist es auch in Berlin für einen weltberühmten Schriftsteller nicht weit her. Auch dort kennt jeder Herrn Frisch, vom Lampenverkäufer bis zum Schlosser. Selbst der Tapezierer fragt: „Kommt wieder ein Stück von Ihnen?” Ein wenig genervt ist Frisch davon – und fühlt sich doch auch geschmeichelt.
Nachlesen lässt sich das in seinem „Berliner Journal”, das jetzt bei Suhrkamp in einer Auswahl erschienen ist. Erst jetzt, weil Frisch testamentarisch verfügt hatte, die Aufzeichnungen dürften (aus Rücksicht auf die darin Erwähnten) frühestens zwanzig Jahre nach seinem Tod der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Wer vernichtende Urteile über Frischs Zeitgenossen erwartet, sich gar erhofft hatte, wird von dem nun vorliegenden Band weitgehend enttäuscht. Das liegt wohl auch daran, dass bei der Herausgabe des Journals reichlich gekürzt wurde – unter Berufung auf nicht immer ganz einleuchtende ästhetische und persönlichkeitsrechtliche Bedenken.
Doch auch in der vorliegenden Form sind die Aufzeichnungen aus den Jahren 1973 und 1974 ein wahrer Lesegenuss. Frischs subtile Tagebuchkunst, die Mischung aus Kurzprosa, Aphoristik und Alltäglichem, findet sich hier überall wieder. Kein „Sudelheft“, wie er selbst betonte, sondern zu Literatur gemachtes Erleben.
Im „Berliner Journal”, wie auch schon in den beiden zu seinen Lebzeiten erschienenen Tagebuchbänden, mischt sich das Private mit dem Politischen. Der Mensch Max Frisch, der große Schriftsteller, der diplomatisch Umtriebige – sie alle stecken in diesem Buch. Da gibt es die vielen leisen, zweifelnden Töne: die Angst vor dem Alter, vor dem Verlust der Erinnerungskraft, seines schriftstellerischen Kapitals („Mein Gedächtnis kann nichts verbürgen; man wird sich selber unglaubwürdig und tut besser daran, zu schweigen”). Dicht daneben die große politische Bühne, Frisch als scharfsinniger Chronist des Lebens in einer geteilten Stadt. Bei Wolf Biermann geht er ein und aus, mit Christa Wolf trifft er sich zum Kaffeetrinken – und analysiert dabei als scheinbar unbeteiligter Beobachter die Sachzwänge, unter denen seine ostdeutschen Kollegen leben und schreiben. Diskussionen, die keine sind; die Überwachung, an die man sich schon gewöhnt hat.
Doch auch Frisch, der Exil-Schweizer in West-Berlin, leidet unter Zwängen. Er ist ein ständig Zweifelnder, sich am eigenen Ruhm Abarbeitender, der angeödet ist von ewig gleichen Gesprächen und Gedanken und sich manchmal selbst im Weg zu stehen scheint. Das macht ihn umso sympathischer.
Seinen Anspruch an sich selbst notiert Frisch lakonisch: „Es wäre noch einiges zu sagen, o ja, sogar viel, aber es müsste sehr genau gesagt sein und einfach.” Präzision und Schnörkellosigkeit, gerade das sind die Stärken seiner Sprache.
Frischs „Berliner Journal” ist beides, beeindruckendes Streiflicht auf die deutsche Teilung und intimer Einblick in den Denkalltag eines großen Lebensbeobachters. Das Warten darauf hat sich gelohnt.
Max Frisch
„Aus dem Berliner Journal“,
Suhrkamp Verlag,
235 Seiten
20 Euro
von Tim Sommer