Die Istanbul-Konvention bleibt in der Türkei wirkungslos
Pinar Gültekin – das ist der Name, der viele Stimmen weltweit auf die Straßen gebracht hatte. Die 27-Jährige kurdische Wirtschaftsstudentin aus der türkischen Provinz Muğla wurde im Juli 2020 brutal von ihrem Ex-Freund Cemal Metin Avcı ermordet: Dieser hatte Gültekin bewusstlos geschlagen, gewürgt, lebendig verbrannt und ihren Körper anschließend in einem Fass mit Beton übergossen. Ihren Körper fand man Tage später in der Nähe eines Waldes. Der Grund für diesen brutalen Mord?
Gültekin hatte die Beziehung zu Metin vor Jahren beendet und wollte seinem Wunsch, die Beziehung erneut aufleben zu lassen, nicht nachkommen. Zwei Jahre nach der Tat folgte der Gerichtsbeschluss, welcher den Täter zu 23 Jahren Haft verurteilte und auf scharfe Kritik stieß. Viele Anhänger:innen der Frauenrechtsbewegung wie auch die Angehörigen von Gültekin hatten sich für eine lebenslange Haftstrafe des Täters ausgesprochen, da das Gericht ihm eine Abmilderung des Urteils aufgrund von Provokation seitens des Opfers gegeben hatte und dementsprechend Gültekins Mitschuld an der Tat implizierte.
Doch der Fall ist einer von vielen. Bereits 2018 hat der Künstler Vahit Tuna mit seinem Denkmal, welches eine Hochhauswand beschmückt mit 440 schwarzen High Heels, wobei die Zahl gleichzusetzen ist mit der Anzahl der ermordeten Frauen, auf die Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht. Zu der Zeit war die sogenannte Istanbul-Konvention, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, zwar unterschrieben, jedoch nicht seitens der Türkei ratifiziert. Mit der Kündigung der Konvention steht der Schutz von Frauen und Mädchen immer mehr in Frage. Die Parlamentsabgeordnete Candan Yüceer wies darauf hin, dass nach der Kündigung mindestens 600 Frauen von Männern ermordet wurden, und dass die Todesursache von über 460 Frauen ungeklärt bleibt.
Auch in diesem Jahr nimmt die Zahl der Femizide nicht ab, denn für die ersten vier Monate wurden insgesamt 156 Fälle registriert, worunter 79 ungeklärt bleiben. Die Zahlen weisen darauf hin, dass es mindestens einen Mordfall pro Tag gibt. Für viele scheinen diese Zahlen in Vergessenheit zu geraten. Die Türkei ist nur eines von vielen Ländern, in welchen der Schutz von Frauen und Mädchen nicht gewährleistet wird. Doch auch in Ländern wie in Deutschland besteht noch Verbesserungsbedarf. Allein in Heidelberg weisen Vereine wie zum Beispiel „Frauen helfen Frauen“ auf Lücken hinsichtlich der Umsetzungen der Istanbul-Konvention hin und plädieren unter anderem für einen Einsatz in mehr geschlechtsspezifische Angebote, wie auch im Vertrag vorgesehen. Die Zahlen, hinter denen letzten Endes Menschen stehen, sollten nicht vergessen werden.
Von Verda Can
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.