Die Kritik am Konsum digitaler Medien ist so alt wie diese Medien selbst. Sie demokratisieren Wissen, loben die Einen. Sie verhindern selbstständiges Denken, kritisieren Andere. Schadet das Internet de Allgemeinbildung?
Der Schriftsteller und Diplomat Martin Osten meint JA, das Internet ist ein Bildungsrisiko:
Das Projekt der Moderne ist seit der Aufklärung die Autonomie des Menschen. Der Prozess der Moderne verhält sich gegenläufig zu diesem Projekt. Warum? Weil es ein Prozess der permanenten Beschleunigung ist, mit exponentieller Steigerung seit der digitalen Revolution, mit dem Mantra des Internets. Dessen Vorteile – vor allem die Demokratisierung und Globalisierung des Wissens – sind unbestritten. Zu wenig beachtet wurden die ebenfalls unbestrittenen Nachteile in Gestalt anthropologischer Kollateralschäden. Das gilt vor allem für das menschliche Gedächtnis: ohne Gedächtnis ist Bildung als Ermöglichung von Autonomie des Menschen nicht denkbar. Denn das Leben wird zwar – digital beschleunigt – nach vorwärts gelebt, aber nur nach rückwärts verstanden. Das Verstehen aber nach rückwärts als konstitutiv für die Identität des Menschen verlangt eine ständige
Übung des Gedächtnisses. Diese Übung entfällt durch das Delegieren des Gedächtnisses an die digitalen Speicher. Denn gespeichert heißt vergessen! Das bedeutet: Bildung als Gedächtnis – (herkunfts-)gestützte Urteilskraft muss notwendigerweise verdorren, wenn wir Bildung nur noch verstehen als Bologna(-digital-) beschleunigten Erwerb von Zukunftskompetenz ohne Herkunftskenntnisse. Das Ergebnis: man ist heute Historiker, wenn man die Tageszeitung von gestern gelesen hat; weshalb dann auch politisch Verlass ist auf das Motto: „Es gilt das gebrochene Wort“ – denn wer erinnert noch, was gestern gesagt wurde?
Folgen des Internets sind Sprach- und Lernstörungen, Stress, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsdefizite
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat vor einiger Zeit konstatiert: 14 Prozent der Bevölkerung bestehe aus „sekundären Analphabeten“ – womit „Radio Eriwan“ unerwartet bestätigt mit der bekannten Antwort auf die Frage, ob man als Analphabet Mitglied werden könne in der Moskauer Akademie der Wissenschaften. Antwort: „Im Prinzip ja, aber nicht als korrespondierendes Mitglied.“ Da das Internet Einzug hält in die Elternhäuser und Schulen, hat sich inzwischen auch die Neurowissenschaft der Frage der Bildungsrisiken des Internets angenommen, mit starker Tendenz einer Problematisierung der digitalen Medien als Lebensmittel. Die Ergebnisse der Hirnforschung sind zum Teil sogar alarmierend: Exzessives Googeln, Surfen, Chatten und Posten haben danach den Effekt, die für das Gedächtnis und die Urteilskraft notwendigen geistigen Übungen zu vernachlässigen. Mit dem Effekt, dass bei Jugendlichen und Kindern durch Bildschirmmedien sich die Lernfähigkeit drastisch vermindert und zum Teil abgelöst wird durch Computerspielsucht. Hinzu kommt, dass Forschungsergebnisse zeigen: Die sozialen Online-Netzwerke mit ihren virtuellen Freundschaften fördern nicht, sondern sie beeinträchtigen in Wahrheit das Sozialverhalten und die Empathie-Fähigkeit mit der Gefahr von Depressionen. Statistische Vergleiche zeigen im Übrigen, dass Kinder und Jugendliche mit digitalen Medien mehr als doppelt so viel Zeit wie in der Schule verbringen. Für die Folgen, die sich hieraus für die Entwicklung des Gehirns ergeben, ist inzwischen der Begriff „Digitale Demenz“ (Manfred Spitzer) eingeführt worden. Ein Befund, der vor allem Sprach- und Lernstörungen, Stress, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsdefizite, verbunden mit wachsender Gewaltbereitschaft umfasst. Eltern, Lehrer und Politiker sind daher zunehmend mit der Frage konfrontiert, Formen der Nutzungsbeschränkung für den Gebrauch digitaler Medien als Lebensmittel zu prüfen und umzusetzen: im Sinne einer neuen Computer-Pädagogik im Interesse einer bildungsbewussten Gesellschaft der Zukunft.
Manfred Osten (Schriftsteller, Kulturhistoriker und Diplomat)
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