Lucy Gray kommt an Katniss nicht heran
Eigentlich ist der Hype um dystopische Young-Adult-Literatur seit einigen Jahren vorbei. Entsprechend überrascht war ich, als meine kleine Schwester mich Ende 2023 in den neuesten Film der Hunger-Games-Reihe zerrte. Okay, vielleicht hatte ich die Buchvorlage „The Ballad of Songbirds and Snakes“ kurz nach Erscheinung selbst verschlungen. Dennoch war ich gespannt auf den neusten Teil eines Franchise, das mit Katniss Everdeen neue Standards für Protagonistinnen schuf.
Im neuen Film geht es vor allem um die Vorgeschichte Snows, den späteren tyrannischen Präsidenten der postapokalyptischen Nation Panem. Als Mentor soll er die Protagonistin Lucy Gray beim Überleben der Hungerspiele unterstützen. Diese fällt in ihren bunten Kleidern neben dem sonst so dominierenden Grau der dystopischen Welt besonders auf. Gleichzeitig glänzt sie immer wieder mit Gesangseinlagen. Sie ist eine schillernde, mysteriöse und charmante Person – was sie recht schnell zum Love Interest des Protagonisten werden lässt. Neben der Dynamik zwischen den beiden sind ihre Handlungen jedoch sehr vorhersehbar. In der Arena beweist Lucy Gray ihre Intelligenz und kann das Publikum für sich gewinnen. Im Vergleich zu Katniss, die sich nur schwer dazu bringen konnte, für die Zuschauer:innen zu schauspielern, nutzt Lucy Gray die Sympathien zu ihrem Vorteil. So weit, so erfrischend. Doch auch nachdem sie als einzige Überlebende zur Siegerin der Hungerspiele wird, zeigt sie weiterhin Interesse an Snow. Die Zuneigung war also nicht nur gespielt. Ihr Charakter erinnert bis dahin an das vor einigen Jahren inflationär kritisierte Klischee des „Manic Pixie Dream Girl“. Damit sind außergewöhnliche, feminine und oft exzentrische Figuren gemeint, die nur der Charakterentwicklung des Protagonisten dienen. Doch als sie mit Snow aus Panem fliehen will, erkennt sie, dass ihm nicht zu trauen ist. Als ihr klar wird, dass er selbst Freunde zum eigenen Vorteil verrät, flieht sie vor ihm – mit ungewissem Schicksal.
Nicht jede weibliche Hauptfigur muss mit traditionellen Geschlechterrollen brechen, und die eher feminine Lucy Gray inspiriert möglicherweise einige Zuschauer:innen. Dennoch wirkt sie neben den vielen komplexen Charakteren zu eindimensional. Oft entsteht der Eindruck, sie sei nur für ihre Interaktionen mit Snow geschrieben. Sie ist trotzdem kein „Manic Pixie Dream Girl“, denn sie zeigt gerade gegen Ende der Handlung eigene Motivationen. Als Figur ist sie nicht problematisch – trotzdem finde ich es schade, dass sie als Protagonistin nicht mehr Tiefe hat.
Von Bastian Mucha
...studiert irgendwas mit Naturwissenschaften (Molekulare Biotechnologie) und schreibt seit Sommersemester 2023 für den ruprecht. Neben der Leitung der Bildredaktion ist er vor allem für Illustrationen, Wissenschaft und Satire immer zu haben.