Eine Rezension zu Haruki Murakamis „Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“
„Vielleicht war seine Sehnsucht nach dem Tod zu wahrhaftig und zu tief, um tatsächlich den Versuch zu machen, sich umzubringen. Auch wenn dieses Problem eher zweitrangig war. Hätte es in seiner Reichweite eine Tür gegeben, die direkt in den Tod führte, er hätte sie ohne Zögern aufgestoßen. Ohne zu überlegen, als natürliche Konsequenz. Doch glücklicher- oder unglücklicherweise konnte er eine solche Tür nicht finden.“
Diese Gedanken plagen den Protagonisten Tsukuru Tazaki. Denn ohne dass er etwas böses getan hätte, wurde er von seinen vier Freunden verstoßen. Den Grund dafür hat er nicht erfahren. Als Jugendlicher gehörte Tazaki einer verschworenen Clique an: es waren tiefe, farbenfrohe Freundschaften, wie man sie nur als Kind erlebt. Es war etwa verpönt, sich mit einem Mitglied ohne die anderen zu treffen. Auch jede Sexualität wurde ausgeklammert, aus gutem Grund.
Mittlerweile ist Tsukuru Tazaki 36 Jahre alt, ledig und erfolgreicher Bahnhofsingenieur. Er führt ein geregeltes, schales und einsames Leben in Tokio. Aus dieser Perspektive ist der Plot aufgebaut, immer wieder erinnert sich der Protagonist in Rückblenden an seine Vergangenheit. Tazaki hält sich für einen Mann ohne Eigenschaften. Darunter leidet er, vielleicht kritisiert der Autor Haruku Murakami das Streben nach Individualisierung, die für viele eine der großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist.
Murakamis Protagonist Tazaki hält sich für einen Mann ohne Eigenschaften
Der Protagonist Tazaki begehrt Sarah, eine zwei Jahre ältere, erfolgreiche Reiseplanerin. Als diese merkt, dass der ungeklärte Verstoß aus der Gruppe ihn immer noch traumatisiert, schickt sie Tazaki zur Bewältigung und Selbstfindung auf eine Reise in seine Vergangenheit. Jeder seiner vier Freunde ist eine Farbe in ihren Namen zugewiesen, nur Tsukuru Tazaki nicht. Unter dieser Farblosigkeit leidet er also und macht sie zur Persönlichkeit. Tsukuru heißt übersetzt ’nur‘ „etwas machen“. Die Exposition ähnelt somit Max Frischs Homo Farber. Auch Haruki Murakami stellt die Grundfragen nach Schuld, Schicksal und Freundschaft.
Eine einfache, bildhafte Sprache, die den Leser sofort in seine Welt hineinzieht
Haruki Murakami benutzt eine einfache, bildhafte Sprache, die den Leser sofort in seine Welt hineinzieht. Es gibt auch mystische Elemente: Träume sind eines der wiederkehrenden Motive im Buch. Die Frage nach ihrer Bedeutung wirft Murakami wiederholt auf, ohne den Leser zu einer Lösung zu führen. Mit einfachsten Mitteln schafft Haruki Murakami es, Stimmungen zu beschreiben und Konflikte auszulösen. Über dem Buch und Tazakis Leben schwebt die Stimmung von Franz Liszts „Le mal du pays“ aus seinem Werk „Années de pèlerinage“, auf das im Buch oft angespielt wird.
Sarah rät Tazaki, seine ehemaligen Freunde aufzusuchen: Tazaki findet daraufhin heraus, dass ein Cliquenmitglied ihn der Vergewaltigung beschuldigt hat. Einige Jahre später wurde dieses Mitglied mit einem Strick erdrosselt gefunden. „Ich weiß selbst nicht, wer diese Frau erwürgt hat. Wirklich, keine Ahnung. Ich weiß nur, dass der Mord für diese Geschichte unbedingt nötig war. Meine Romane und Erzählungen mögen mal mehr und mal weniger fantastisch sein. Aber beim Schreiben ist es für mich immer das Gleiche. So auch bei diesem Roman. Ich habe wieder diese Brise gespürt. Ich empfange Nachrichten von der anderen Seite“, sagte Murakami im Interview mit der Zeit. Das Rätsel um den Mörder bleibt also ungelöst.
Haruki Murakami hat ein wunderbares, in sich schlüssiges Buch geschaffen. Vollkommen zu Recht ist es ein Bestseller, nicht nur in Japan.
von Dominik Waibel