Unter der Regie von Markus Dietz wird die Komödie ,,Die Möwe“ im Theater Heidelberg aufgeführt. Das Werk des russischen Dramatikers Anton Tschechows stammt aus dem Jahre 1895. Tschechows Stück zeigt eine materialistische Gesellschaft, die ihr Leben auf tragische Weise verfehlt und nach dem Nutzen ihrer Existenz fragt.
,,Die Liebe, die am längsten währt, ist die unerwiderte Liebe“, schrieb William Somerset Maugham. Während eines Sommers auf einem russischen Landgut lieben alle in die Irre: Der Lehrer liebt Mascha, die jedoch Kostja, einen angehenden Schriftsteller, begehrt. Der aber ist in Nina, die sich zu dem erfolgreichen Schriftsteller Trigorin hingezogen fühlt und mit aller Macht Schauspielerin werden will, verliebt. Trigorin ist mit Kostjas Mutter Arkadina, einer berühmten Schauspielerin, liiert. Als Arkadina und Trigorin nach Moskau abreisen, folgt Nina den beiden. Nach zwei Jahren ist Kostja ein erfolgreicher, aber einsamer Schriftsteller geworden. Da taucht Nina auf. Sie konnte sich den Traum einer großen Schauspielkarriere nicht erfüllen und hat sich von Trigorin abgewendet. Dennoch verlässt sie Kostja abermals. Die unerwiderte Liebe zu Nina und sein künstlerisches Versagen treiben ihn in den Selbstmord.
Nur zwei Stunden dauert die gesamte Aufführung. In nur 120 Minuten erlischt das Leben Kostjas. Ein junger Mensch zerbricht an einer Gesellschaft, die ihm nur mit Unverständnis gegenübertritt. Kostja postuliert eine Reformierung des Theaters:,,Wir brauchen neue Formen. Ein neues Theater. Keine Figuren. Der leere Raum.“ In seinem neuen Stück, das er Nina spielen lässt, will er das Leben in den Köpfen der Menschen zeigen und kritisiert dabei den in der Gesellschaft verankerten Materialismus. Dafür benutzt er eine für seine Mitmenschen unverständliche metaphorische Sprache. Die Darstellerin der Nina spielt währenddessen im Zuschauerraum, damit der Besucher des Theater Heidelbergs die Darsteller als Zuschauer wahrnimmt: Sie schauen fragend in die Runde, rauchen desinteressiert eine Zigarette und verspotten das Werk als ,,moderne Brühe“. ,,Die Leute lieben an der Kunst am meisten das Banale und längst Bekannte, das, woran sie gewöhnt sind“, sagte Tschechow einmal. Plötzlich flimmert das Licht, lautes Geschrei, Stühle fliegen durch die Luft, die Musik hängt – Ein lauter Schuss! Doch erst der Zweite führt zum Tod.
Jede Figur ist nur auf sich selbst fokussiert. Da ist der Lehrer, der sich über seine finanzielle Lage beklagt. Mascha, die aus Verzweiflung den Lehrer heiratet. Kostjas Onkel, der seiner vergeudeten Jugend nachtrauert. Arkadina, die das Altern fürchtet. Trigorin, der an einer Schreibsucht leidet. Beim Jammern sind die Figuren sehr emotional und schmeißen sich anderen um den Hals, krallen sich fest oder weinen. Wie sehr die Figuren unter der Einsamkeit leiden, sieht man daran, dass sich jeder nach körperlicher Nähe sehnt. Mascha und der Lehrer fallen übereinander her, sowie am Ende Nina und Kostja. Auch die melancholische Musik zwischen den einzelnen Akten steht mit der Innenwelt der Figuren im Einklang. Gleich zu Beginn vernimmt man die Worte ,,No fun to hang around, no fun to be alone.“
Sogar die Mutter-Sohn Beziehung zwischen Arkadina und Kostja ist gestört. Arkadina lässt keine Gelegenheit aus, um ihren Sohn zu verspotten. Insgeheim verabscheut sie ihn, weil seine Jugend ihr wahres Alter und sein Idealismus ihre Leere enthüllt. Kostja ärgert sich über das Verhalten seiner Mutter, sucht aber gleichzeitig ihre Zuneigung. Der Kontrast zwischen Arkadina, einer klassischen Schauspielerin, und Kostja, einem modernen Rebell, wird durch die Verwendung eines hohen Abstraktionsgrades deutlich: Im Raum befinden sich nur die nötigsten Requisiten.
Und Tschechow nennt dieses bittersüße Kaleidoskop menschlicher Unzulänglichkeiten Komödie? Im Stück geht es um die Reflexion über den Sinn des menschlichen Daseins. Oft ist der Grad zwischen gerade diesen erhabenen Momenten und der Lächerlichkeit nur minimal.
Insgesamt ist die Bühnenbildgestaltung modern und offen. Statt eines knalligen bunten Puppenspiels sehen wir präzise Bilder, denn Tschechow selbst war kein Autor der Symbole. Gerade durch diese Präzision wird es dem Besucher erleichtert, sich im wirren Vexierspiel zurecht zu finden. Jeder muss das Stück selbst auf sich wirken lassen und selbst herausfinden, was er davon mitnimmt. Jedenfalls verlässt niemand das Theater ohne ein bedrückendes Gefühl und ohne sich über das Stück Gedanken zu machen. Am Ende wird sich jeder die Frage stellen, was denn nun eigentlich das Leben ist. Als Tschechows Ehefrau ihn genau das fragte, antwortete er: ,,Das ist das gleiche, als würde man fragen, was ist eine Mohrrübe. Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe und das ist alles.“
von Katharina Werner