Mit einer unabhängigen Medienplattform will das bürgerliche Lager die Heidelberger Demokratie beleben, doch die Nähe zu Parteimitgliedern sorgt für Kritik: Soll darüber verdeckt Einfluss genommen werden? Anstatt die Vorwürfe zu entkräften, zeigen die Beteiligten bislang wenig Interesse daran, für umfassende Transparenz zu sorgen. Wir stoßen dabei immer wieder auf die Frage: Wie unabhängig muss Wahlberichterstattung sein?
1. Weiße Sneaker und ein Røde-Mic
„Was studierst du?“
„Was wünscht du dir für Heidelberg?“
„Wo gehst du am liebsten essen?“
Trends brauchen eine Weile, bevor sie es nach Heidelberg schaffen, doch auch hier ist irgendwann das Konzept der Straßenumfrage angekommen. Meistens sind es gutaussehende junge Menschen, die in diesen Formaten Passant:innen nach Alltäglichkeiten befragen. Welches Viertel das schönste sei. Wo es die besten Bars gebe. Dahinter stehen in der Regel professionelle Agenturen, die so gezielt Reichweite aufbauen, um sie später zu vermarkten. Denn die mit Soundeffekten unterlegten Videos voller Emojifeuerwerke klicken sich auf Tiktok und Instagram besonders gut.
Am 28. März 2024 ist es der Kanal Unser Heidelberg, kurz @unser.hd, der sich erstmals in die Schlacht um die Aufmerksamkeit der scrollenden Heidelberger:innen wagt. Der Interviewer, dunkelblond und sneakertragend, verrät seinen Namen nicht – wir nennen ihn einfach mal Tom. Er stellt weder sich noch den Kanal vor, stattdessen erscheint ein Interview, bis auf unverbindliche Hashtags, kommentarlos. Diese Verschwiegenheit ist einer der Gründe, warum Tom und Unser Heidelberg zwei Monate später im Mittelpunkt eines lokalpolitischen Skandals stehen werden.
Ihr Erfolgsrezept: Schnelle Cuts, Emojis und Gewinnspiele
Die Videos kommen gut an und erreichen zehn-, teilweise hunderttausende Views. Inzwischen folgen dem Account auf Instagram über 26.000 Menschen, mehr als dem Mannheimer Morgen. Täglich werden es hunderte mehr. Falls es in dem Tempo weitergeht, könnte Unser Heidelberg bald alle regionalen Medien überholen.
Hintergrund: Wer kontrolliert Online-Medien?
Falls sich ein privates journalistisch-redaktionell gestaltetes Telemedium nicht freiwillig Selbstverpflichtungen wie dem Pressekodex unterwirft, unterliegt es der Aufsicht durch die Landesmedienanstalten, sofern ein journalistisch-redaktionelles Angebot vorliegt. In Baden-Württemberg ist das die Landesanstalt für Kommunikation (LFK). Wir haben die LFK nach ihrer Einschätzung zu Unser Heidelberg gefragt. Eine Mitarbeiterin erklärte auf Anfrage, dass ihnen die Plattform bislang nicht bekannt war, eine genaue Prüfung – auch darüber, ob die LFK überhaupt dafür zuständig sei – weitere Zeit in Anspruch nehmen werde. Vergleichbare Fälle seien ihr bislang auch nicht bekannt gewesen. Dennoch erklärte sie sich bereit, uns allgemeine Fragen zur Rechtslage zu beantworten.
Für die steigenden Abozahlen sind auch Gewinnspiele verantwortlich. Tom verlost regelmäßig Smartphones und teure Kopfhörer. Die Plattform betreibt zudem einen Whatsapp-Kanal, auf dem sich Neuigkeiten und Veranstaltungstipps mit weiteren Verlosungen abwechseln. Die Gewinne werden von Firmen gesponsert, die in diesem Zusammenhang auch namentlich erwähnt werden.
Hintergrund: Was gilt für Werbung und Gewinnspiele?
Wenn in Online-Medien Unternehmen oder Produkte genannt werden, kommt es auf den genauen Kontext und den Wert des Produkts an, ob im Einzelfall Werbung vorliegt. Die 14 Medienanstalten haben dafür einen gemeinsamen Leitfaden veröffentlicht. Auch die Durchführung von Gewinnspielen ist streng geregelt und muss transparent gestaltet werden.
Irgendwann scheint Unser Heidelberg sogar Geld zu verschenken. In Videos klebt eine Person Sticker mit dem Logo der Plattform an Orte in der Innenstadt. Unter den Stickern: 50-Euro-Scheine. Wer dem Account folgt, erfährt schneller, wo das Geld versteckt ist. Es wird nicht erklärt, woher diese Scheine stammen.
Auch Tom erzählt nichts darüber, wer ihn eigentlich bezahlt. Wie das alles finanziert wird, die Filmcrew, das Equipment, die Postproduktion, all das bleibt unklar, bis irgendwann ein Impressum erscheint. Wann genau, kann nachträglich nicht bestimmt werden. Der Zeitstempel der angepinnten Story weist darauf hin, dass spätestens seit dem 1. Mai öffentlich bekannt ist, wer Unser Heidelberg betreibt: Der Verein „Bürgerforum Heidelberg“, zu dem Zeitpunkt noch in Eintragung, gegründet am 21. März 2024. Außer den Namen der beiden Vorsitzenden sind noch wenig Informationen über den Verein bekannt, erst später wird man mehr über das Bürgerforum erfahren.
2. Der Blick wendet sich in Richtung Kommunalwahl
Am 5. Mai kündigt Tom in einem Video an, künftig auch über die anstehende Kommunalwahl zu berichten. Unser Heidelberg wolle seinen Zuschauer:innen dabei helfen, „die wichtigsten Neuigkeiten der Stadt zu verstehen“. Er fordert auf, in den Kommentaren Vorschläge für Fragen einzureichen. Der beliebteste Kommentar fordert günstigere Dönerpreise.
Bereits einen Tag später, am 6. Mai, folgt das erste politische Video. Tom behauptet, dass Heidelberg durch Abwanderung von großen Unternehmen bereits über 32 Millionen Euro an Gewerbesteuereinnahmen verloren habe. Zudem habe eine Mehrheit des Gemeinderats die Ansiedlung von Unternehmen, wie dem Pharmakonzern Eli Lilly, verhindert. In dem Zusammenhang erwähnt er auch den Verkauf des Unternehmens Lamy an eine japanische Firma. Als Belege werden im Video Screenshots eingeblendet, die Überschriften von Medienberichten sowie die derzeitige Zusammensetzung des Gemeinderats zeigen.
Das Video sorgt für Ärger, hunderte Kommentare werden darunter gepostet. Manche unterstellen der Plattform Populismus und fragen nach Quellen, andere meinen, in den Inhalten des Videos ein Versagen von rot-grüner Politik zu erkennen. Die Stadträte Matthias Kutsch (CDU) und Felix Grädler (Grüne) diskutieren darüber, ob die Grünen die Ansiedlung von Unternehmen in Heidelberg verhindert hätten. Kutsch spielt dabei auf nicht-öffentliche Sitzungen des Gemeinderats an, aus denen er nicht zitieren dürfe. Einige Wochen später wird Grädler als Reaktion auf das ursprüngliche Video von Unser Heidelberg eine Gegendarstellung veröffentlichen und Belege auf seiner Website präsentieren.
Wer bei der ganzen Diskussion fehlt, ist Unser Heidelberg. Von Seiten der Plattform gibt es keine Moderation in den Kommentaren, es wird weder auf Kritik eingegangen, noch werden Quellen nachgereicht oder Unklarheiten erläutert. Auch Wochen später, selbst nachdem Felix Grädler seine Gegendarstellung veröffentlicht hat, erfolgt keine Reaktion der Plattform.
Hintergrund: Publizistische Sorgfaltspflichten auf Social Media
Generell müssen journalistisch-redaktionelle Angebote Sorgfaltspflichten beachten, die sich in der Praxis an den Vorgaben des Pressekodex orientieren. Dennoch können nur Aufsichtsbehörden wie die LFK oder freiwillige Selbstkontrollen, wie der Presserat, Online-Plattformen dazu verpflichten, Gegendarstellungen zu veröffentlichen, so die Expertin der LFK. „Nur weil jemand andere Meinungen äußert oder nach Quellen fragt, muss man nicht darauf reagieren”, erklärte sie uns. Außerdem gebe es ihrer Einschätzung nach, sofern keine Hassrede oder vergleichbares vorliege, keine Pflicht, Diskussionen im Kommentarbereich zu moderieren.
Bald darauf, am 9. Mai, wird das erste von vielen Straßeninterviews mit Politiker:innen veröffentlicht. Den Anfang macht der SPD-Politiker Sören Michelsburg, der zu fehlendem bezahlbaren Wohnraum und bundesweiter Kritik an der SPD befragt wird. Am nächsten Tag folgt ein Interview mit Nicole Marmé (CDU). Sie darf zunächst die Wirtschaftspolitik der CDU erklären und Parallelen aus dem Wahlprogramm zur Bundespolitik herstellen. Das zentrale Thema: Sicherheit. Es folgen weitere Interviews mit Kandidierenden der FDP, der Wählerinitiative „Die Heidelberger“, der Linken und der Grünen. Auch Heidelberger:innen werden in Straßenumfragen nach kommunalpolitischen Themen oder Wahltendenzen befragt.
Hintergrund: Die Interviews der ersten Runde im Vergleich
Datum | Gast | Fragen |
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9. Mai | Sören Michelsburg (SPD) |
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10. Mai | Nicole Marmé (CDU) |
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12. Mai | Tim Nusser (FDP) |
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14. Mai | Larissa Winter-Horn (Die Heidelberger) |
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20. Mai | Sahra Mirow (Die Linke) |
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21. Mai | Frieda Fiedler (Die Grünen) |
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3. Memevestigativer Journalismus
Schnell kommt in den Kommentaren von Unser Heidelberg der Vorwurf auf, der Account würde verdeckte Wahlwerbung für bürgerliche Parteien betreiben. Kritisiert wird die Auswahl an vermeintlich kritischen Fragen für progressive Parteien, während liberal-konservative Politiker:innen meist zuerst ihre eigenen Positionen ausführen dürften.
Tatsächlich bleibt zunächst unklar, wie die finalen Fragen an die Politiker:innen ausgewählt werden. Dem ruprecht liegen mehrere Aussagen vor, nach denen die Interviewfragen vom Moderator lediglich abgelesen oder von einer dritten Person vorgesagt werden. Auch die Agentur Social Peak, für die Tom arbeitet, erklärt gegenüber dem ruprecht, dass sie nur für die Umsetzung, jedoch nicht für die Inhalte der Straßenumfragen oder sonstige Inhalte zuständig sei.
Ein trojanisches Pferd?
Plötzliche und große Aufmerksamkeit erhält Unser Heidelberg dann am Abend des 27. Mai. Der von Studierenden betriebene Meme-Account Uni Heidelberg Quotes (UHQ) veröffentlicht eine umfangreiche Recherche, die der Plattform verdeckte Wahlwerbung für Die Heidelberger, CDU und FDP vorwirft. In nicht gerade subtiler Symbolik wählt der Account dafür das Meme eines trojanischen Pferds. Als Belege werden Screenshots und öffentliche Quellen verlinkt, die Ergebnisse nochmal in einem PDF zusammengefasst. Auch dass die lokalen Medien das Thema noch nicht aufgegriffen haben, wird thematisiert, explizit werden die RNZ und der ruprecht erwähnt.
Unter anderem macht UHQ darauf aufmerksam, dass viele der Gewinnspiele auf dem Whatsapp-Kanal von Unser Heidelberg von Firmen gesponsert werden, deren Inhaber:innen auf Listen von CDU, FDP und Die Heidelberger für den Gemeinderat kandidieren. Auf Nachfrage des ruprecht an die jeweiligen Parteien, wie die Kooperationen zustande gekommen seien, antwortet die FDP, dass Unterstützung im kulturellen und sportlichen Bereich für Unternehmen nicht unüblich sei und damit versucht werde, dem Fachkräftemangel durch Recruitment entgegenzuwirken. Auch Die Heidelberger erklären auf Nachfrage, die ihnen nahestehenden Unternehmen hätten den Instagram-Kanal lediglich als Werbeplattform nutzen wollen. Die CDU kann unsere Fragen aus Zeitgründen nicht fristgerecht beantworten und verweist auf ein allgemeines Statement – auch nach einer Fristverlängerung erhalten wir keine Antwort.
Weiterhin kritisiert UHQ, dass Unser Heidelberg über ihren Whatsapp-Kanal auf Wahlkampfveranstaltungen hinweist, etwa die „Start-up Talkrunde“ der Wählerinitiative Die Heidelberger am 15. Mai. Gegenüber dem ruprecht erklären Die Heidelberger, dass weder sie das Bürgerforum beauftragt haben, für diese Veranstaltung zu werben, noch das Bürgerforum von sich angezeigt habe, Wahlwerbung für die Heidelberger zu schalten. Außerdem seien zwischen der Wählerinitiative und dem Bürgerforum keine finanziellen Mittel geflossen.
Hintergrund: Hinweise für Wahlkampfveranstaltungen
Online-Plattformen, die redaktionelle Veranstaltungstipps veröffentlichen, dürfen auch auf öffentliche Wahlkampfveranstaltungen von Parteien hinweisen, so die Expertin der LFK. Sie ergänzt: Nur falls dafür bezahlt werde, müsse der Beitrag als Werbung gekennzeichnet werden
Viele Kommentierende sehen in diesen Indizien bereits eine erdrückende Beweislast. Besonders Menschen, die dem restlichen demokratischen Parteienspektrum nahestehen oder auf diesen Listen für den Gemeinderat kandidieren, feiern diese Ergebnisse und bedanken sich für den Post. Der Beitrag geht viral und wird oft geteilt, er erhält schließlich über 2600 Likes. Allerdings fehlen darin Stellungnahmen von Unser Heidelberg und den beschuldigten Listen, wobei unklar bleibt, ob diese vorab ein Angebot dafür erhielten, was nach journalistischen Standards üblich ist. Dazu lassen sich manche Anschuldigungen nicht aus den vorgelegten Belegen ableiten, vieles ist spekulativ und führt zu öffentlichen Vorverurteilungen.
Der Post von UHQ wird auch hinter den Kulissen für Bewegung sorgen. Es fällt auf, dass bei Unser Heidelberg seitdem nur noch Politiker:innen von CDU, FDP und HD’er zu Wort kommen. Die Grünen und Die Linke bestätigen auf Anfrage, dass beide Parteien sich gemeinsam mit der SPD dazu entschlossen hätten, die Plattform zu boykottieren.
Heidelberg wartet auf Antworten
Weder die betroffenen Listen noch Unser Heidelberg reagieren offiziell auf diesen Post. Stattdessen teilt Unser Heidelberg in der eigenen Instagram-Story am 28. Mai einen Link zur FAQ auf ihrer Website „unser-heidelberg.de“. Der Inhalt entspricht weitgehend dem Fragenkatalog, den der ruprecht den Betreiber:innen am 19. Mai, also bereits eine Woche vor der Veröffentlichung von UHQ, zugeschickt hat. Darin gibt die Plattform an, dass der dahinterstehende Verein, das Bürgerforum Heidelberg, „lebendige Demokratie, soziale Marktwirtschaft und Weltoffenheit“ fördern wolle. Mit der Plattform Unser Heidelberg sollen junge Menschen nach relevanten Themen befragt werden, um diese an Heidelberger Politiker:innen weiterzugeben.
Auch zu der Kritik, dass manche die Straßeninterviews mit Politiker:innen als tendenziös empfinden, nimmt die Plattform Stellung. Sie geben an, allen Interviewpartner:innen eine Mischung aus einfachen und schwierigen Fragen zu stellen. Unser Heidelberg erklärt, die Fragen würden auf Grundlage von Bürger:innenfragen in der Redaktion gemeinsam ausgewählt werden. Die Redaktion bestehe dabei aus zwei Vorstandsmitgliedern des Bürgerforums sowie zwei externen Experten – Namen werden jedoch nicht genannt.
4. Wie viel Transparenz braucht lebendige Demokratie?
Mit dem Beitrag von UHQ wird die breite Öffentlichkeit erstmals auf den neuen Verein Bürgerforum Heidelberg aufmerksam, über den kaum etwas bekannt ist. Im Impressum werden Heino Freudenberg und Marina von Achten als Vorsitzende genannt. Beide stammen aus bekannten Unternehmerfamilien, sind unternehmerisch tätig und waren zeitweise in verschiedenen Ehrenämtern aktiv, doch als Akteur:innen in der Heidelberger Kommunalpolitik waren sie bisher nicht bekannt. Gegründet wurde der Verein am 21. März dieses Jahres, die Website befindet sich noch im Aufbau. Als Sitz wird eine Adresse in der Altstadt genannt, ein Klingelschild mit dem Namen des Vereins war Anfang Juni noch nicht angebracht.
Verborgene Mitgliedschaften spalten Heidelberg
Um einen Verein zu gründen, benötigt es sieben Personen, Ende Mai waren nur zwei Mitglieder des Bürgerforums namentlich bekannt. Am 31. Mai geschieht dann etwas unerwartetes: Unser Heidelberg aktualisiert kommentarlos die FAQ seiner Website und gibt darin bekannt, dass die Fraktionsvorsitzenden von CDU, FDP und Die Heidelberger zu den Mitgründer:innen des Vereins gehören, ihre Mitgliedschaften während des Wahlkampfs jedoch ruhen lassen würden, um Interessenkonflikte zu vermeiden.
Wenige Wochen zuvor wurden zwei der Fraktionsvorsitzenden, Nicole Marmé (CDU) und Larissa Winter-Horn (HD’er), noch von Unser Heidelberg interviewt – ihre Verbindung zum dahinterstehenden Verein machten sie dabei nicht öffentlich. Gerne hätten wir vom Bürgerforum erfahren, warum diese Bekanntgabe nicht früher erfolgte. Vor allem in Anbetracht der Vorwürfe möglicher politischer Einflussnahme hätte transparente Kommunikation diese frühzeitig entkräften können. Obwohl der Verein auf unsere Presseanfrage fristgerecht reagierte, entschied er sich, diese spezielle Frage nicht zu beantworten, sondern betont in einer allgemeinen Stellungnahme seine Unabhängigkeit und Transparenz: „Das Bürgerforum und seine Aktivitäten sind spendenfinanziert. Absprachen oder eine Finanzierung durch Parteien gibt es nicht. Umgekehrt finanziert das Bürgerforum auch keine Parteien. Kein Mitglied profitiert persönlich von den Aktivitäten des Bürgerforums.“
Hintergrund: Stellungnahme des Bürgerforums über seinen Vereinszweck
„Das Bürgerforum Heidelberg ist ein zwischenzeitlich eingetragener Verein und setzt sich für ‚lebendige Demokratie, soziale Marktwirtschaft und Weltoffenheit‘ ein. Mit dem Verein möchten wir das Interesse aller Generationen an Politik fördern und politischen Diskurs erlebbar machen – und zwar parteiübergreifend und parteiunabhängig. Um die Themen ‚lebendige Demokratie, soziale Marktwirtschaft und Weltoffenheit‘ in Heidelberg sichtbarer zu machen, organisieren wir Vortragsveranstaltungen und Podiumsdiskussionen. Zudem haben wir einen WhatsApp-News-Channel sowie eine Website etabliert. Mit unserem Instagram-Kanal wollen wir insbesondere junge Heidelbergerinnen und Heidelberger für die Demokratie begeistern und zeigen, dass Politik (insbesondere Kommunalpolitik) für sie relevant ist. Wir möchten zu Engagement in unserer Gesellschaft und für unsere Gesellschaft motivieren – wie gesagt parteiübergreifend und parteiunabhängig. Dafür werden wir uns auch nach der Kommunalwahl einsetzen.“
Als Reaktion auf die bekannt gewordene Verbindung führender Köpfe aus CDU, FDP und Die Heidelberger mit dem Bürgerforum fordern neun Parteien und Listen in einer gemeinsamen Erklärung transparentere Kommunikation. Sie kritisieren das Bürgerforum und fordern die Einstellung seiner Projekte. CDU, FDP und HD’er reagieren darauf mit eigenen Statements, in denen sie jegliche organisationalen oder finanziellen Verbindungen zum Bürgerforum verneinen und kritisieren, dass sie vor Veröffentlichung des Statements nicht kontaktiert worden seien.
In ihrem Statement fordern die HD’er auch UHQ zu mehr Transparenz auf. Tatsächlich ist unklar, wer sich zur Zeit hinter diesem anonymen Account verbirgt, laut eigenen Angaben wechselt die Besetzung regelmäßig. Auf Nachfrage des ruprecht gibt UHQ jedoch an, unabhängig von jeglichen Parteien vorgegangen zu sein und die Recherche komplett selbst durchgeführt zu haben.
Der Schatzmeister des Bürgerforums kandidiert für die FDP
Am 3. Juni veröffentlicht das Amtsgericht Mannheim schließlich den Vereinsregistereintrag des Bürgerforums. Darin wird überraschenderweise Tilman Segler als Schatzmeister aufgeführt. Er ist einzelvertretungsberechtigt und damit den beiden Vorsitzenden gleichgestellt. Segler ist Bezirksbeirat für die FDP, er kandidiert auf deren Liste für den Gemeinderat. Auf seinem Kandidierendenprofil für die FDP gibt er verschiedene Ehrenämter an – seine Position im Vorstand des Bürgerforums Heidelberg fehlt. Wir fragen bei ihm nach, warum er diese Position nicht früher bekannt gegeben hat und ob er seine Mitgliedschaft während des Wahlkampfs ebenfalls ruhen lässt. Eine Antwort auf diese Fragen lag bis Redaktionsschluss nicht vor. Stattdessen lässt er den Eintrag auf seinem Profil ergänzen, wie ein Sprecher der FDP Heidelberg bestätigt. Das Impressum von Unser Heidelberg listet ihn weiterhin nicht auf. Auch eine spätere Stellungnahme der FDP vom 5. Juni gegenüber dem ruprecht erwähnt seine Rolle nicht. Auf Rückfrage, warum er ursprünglich nicht erwähnt wurde, teilt der FDP-Sprecher mit, dass darüber keine Kenntnis bestand. Weiterhin soll Tilman Segler keine Funktion innerhalb der Partei haben und keinem Gremium angehören.
Hintergrund: Verbindung zwischen Parteien und Medien
Parteinaher Journalismus in Presse und auf Telemedien ist in Deutschland grundsätzlich erlaubt. Der Pressekodex kennt jedoch Richtlinien zu Doppelfunktionen, so müssen Verleger:innen und Journalist:innen, die neben ihrer publizistischen Tätigkeit auch Funktionen, etwa in Regierungen ausüben, diese strikt voneinander trennen. Die Expertin der LFK erklärte uns, dass möglicherweise ein Verstoß vorliegen könnte, falls eine solche Doppelrolle nicht gekennzeichnet werde.
Wenn der Erste Bürgermeister plötzlich von Eidechsen redet
Am 3. Juni lädt Unser Heidelberg ein Interview mit dem Ersten Bürgermeister Heidelbergs, Jürgen Odszuck (CDU) hoch. Erstmals wird ein Mitglied der Stadtverwaltung interviewt, die sich traditionsgemäß vor Wahlen neutral verhält. Im Interview fragt Tom den Baubürgermeister Odszuck nach seiner „skurrilsten Erfahrung“ im Amt. Nach kurzem Überlegen erwähnt dieser die andauernden Artenschutzmaßnahmen für die Mauereidechse, woraufhin Tom eine Gegenfrage zu der Höhe der damit verbundenen Kosten stellt.
Auch Odszuck fragen wir nach dem Zustandekommen des Interviews, ob es Absprachen zwischen ihm und dem Bürgerforum gab und ob ihm die Kritik an der Plattform zuvor bekannt war. Auf die Frage, ob die Pressestelle der Stadt Heidelberg in das Interview eingeweiht war oder dieses autorisiert hätte, erhalten wir von dieser die Antwort, dass man zu internen Abläufen keine Auskunft gebe. Gegenüber dem ruprecht sagt Odszuck, er sei in seiner Funktion als Bürgermeister angefragt worden, das Gespräch habe bereits Mitte Mai stattgefunden. Er ergänzt: „Der Kanal war für mich nicht als parteipolitische Plattform erkennbar und dem Neutralitätsgebot vor Wahlen bin ich im Gespräch voll und ganz nachgekommen.“
Eine Parabel publizistischer Unvernunft
Gleichzeitig wird auf der Homepage von Unser Heidelberg ein aufwändig recherchierter Artikel zu ebendieser Problematik der Mauereidechsen veröffentlicht, der eine Gemeinderatsinitiative der CDU ankündigt und mit der Frage schließt, ob sich im „mehrheitlich grün-rot-roten Gemeinderat die notwendige Mehrheit“ dafür finde. Auf derselben Seite befindet sich der Artikel „Eine Parabel politischer Unvernunft?“, über die Kostensteigerung beim Neubau des Betriebshofs. Die URL verrät, dass der Artikel ursprünglich „Eine Parabel grüner Unvernunft?“ titelte. Das Bürgerforum Heidelberg wollte uns auf Anfrage nicht erklären, warum der Titel geändert wurde.
Verfasst wurden beide Texte von der Contentagentur HAAS Publishing, die zur selben Mediengruppe wie der Mannheimer Morgen gehört. Die HAAS Mediengruppe teilte dem ruprecht mit, dass der von der Contentagentur gewählte Titel „Politische Unvernunft“ gewesen sei und das Bürgerforum diesen ohne ihr Wissen geändert habe. In der Tatsache, dass beide Unternehmen den Wahlkampf redaktionell behandeln, sieht die HAAS Mediengruppe jedoch keinen Interessenkonflikt. Es handele sich um eigenständige Unternehmen mit unterschiedlichen Redaktionen und der Mannheimer Morgen unterhalte keine Beziehungen zum Bürgerforum. Zunächst teilte die HAAS Mediengruppe mit, dass ihnen die Kritik an Unser Heidelberg nicht bekannt sei. Nach einem Hinweis auf die gemeinsame Transparenzerklärung von neun Heidelberger Listen teilen sie später mit, dass man sich als Unternehmensgruppe zu parteipolitischen Auseinandersetzungen grundsätzlich nicht öffentlich äußern möchte.
Und nun, Heidelberg?
Mit dem Vorhaben, junge Menschen für Demokratie zu begeistern, hat sich das Bürgerforum Heidelberg ein ehrbares Ziel gesetzt. Sie schafften es, in kurzer Zeit eine Plattform aufzubauen, die mit der Präsenz regionaler Medienhäuser gleichziehen konnte. Diese Reichweite geht mit Verantwortung einher, doch Versuche, diese einzufordern, enden, für Außenstehende nicht nachvollziehbar, an einer Mauer des Schweigens. Nun, zwei Tage vor der Wahl, ist Unser Heidelberg ein Symbol der Spaltung im politischen Heidelberg geworden. Wir hätten gerne Tom gefragt, wie er sich damit fühlt, da er als Moderator das Gesicht der Plattform ist. Er zeigt sich anfänglich offen für eine Stellungnahme und wir vereinbaren ein Gespräch. Kurz vor Redaktionsschluss erhalten wir eine neue Nachricht: Er wolle sich nicht mehr dazu äußern.
Text und Recherche: Philipp Rajwa, Mara Renner, Till Gonser, Ulrike Husemann, Nicolas Dion
Bilder: Till Gonser
Redigat: Lena Hilf
Transparenzhinweis:
Wir haben für diese Recherche die baden-württembergische Landesanstalt für Kommunikation (LFK) um ihre Einschätzung der Plattform Unser Heidelberg gebeten. Als Regulierungsbehörde ist sie auch für Online-Plattformen zuständig und ist so in der Lage, neutral und professionell Auskunft zu geben. Zur Aufgabe der LFK gehört allerdings auch die Prüfung, ob Anbieter rechtliche Vorgaben einhalten, bei Verstößen verhängt sie gegebenenfalls Bußgelder. Unsere Presseanfrage könnte, sollte die LFK einen möglichen Verstoß vermuten, einen solchen Prozess in Gang setzen. Es ist jedoch nicht die Aufgabe der unabhängigen Presse, Behörden bei ihrer Arbeit mit Hinweisen zu unterstützen. Vor allem widerspricht dies dem journalistischen Selbstverständnis, aus einer neutralen Perspektive zu berichten und nicht in das Geschehen einzugreifen.
Dass wir dennoch eine solche Anfrage gestellt haben, hat folgenden Grund: Aufgrund der komplexen Thematik und der Präzedenzlosigkeit des Sachverhalts, wollten wir zur Einordnung zeitnah mit neutralen Expert:innen sprechen. Leider haben uns alle angefragten Wissenschaftler:innen und Organisationen abgesagt oder nicht geantwortet. Viele andere Gesprächspartner:innen, etwa solche, die sich beruflich mit politischer Kommunikation beschäftigen, stehen politischen Parteien oder Strömungen nahe und kamen somit nicht in Frage, denn ihre Einschätzungen wären als parteiisch angreifbar gewesen.
Korrekturhinweise:
8. Juni: In der Auflistung der Interviewfragen stand bei Sören Michelsburg fälscherlichweise die Frage „Auf Bundesebene steht ihr teilweise in der Kritik, warum macht ihr es auf Bundesebene besser?“. Tatsächlich lautet der zweite Teil der Frage: „[…], warum macht ihr es in Heidelberg besser?“ Wir haben diesen Fehler korrigiert. Bezogen auf den auf Unser Heidelberg publizierten Artikel über den Betriebshof hieß es fälschlicherweise, dass dieser zwischenzeitlich „Die grüne Unvernunft“ im Titel enthalte. Tatsächlich enthielt der Artikeltitel die Phrase „Eine Parabel grüner Unvernunft?“. Wir haben diesen Fehler korrigiert. In einer früheren Version des Artikels hieß es fälschlicherweise, Unser Heidelberg würde in den Videos Firmen für die bereitgestellten Gewinne danken. Während Danksagungen teilweise erfolgt sind, allerdings nur auf dem Whatsapp-Kanal der Plattform, handelt es sich bei den meisten Erwähnungen in den Videos und Whatsapp-Meldungen um bloße Namensnennungen. Wir haben diese Stelle korrigiert.
...hat in Heidelberg Informatik studiert und war zwischen 2020 und 2023 Teil der ruprecht-Redaktion. Ab dem WiSe 2021 leitete er das Feuilleton und wechselte im WiSe 2022 in die Leitung des Social-Media-Ressorts. Im Oktober 2022 wurde er zudem erster Vorsitzender des ruprecht e.V. und hielt dieses Amt bis November 2023.
...studiert Kunstgeschichte und Politikwissenschaft, seit 2021 schreibt sie über Kurioses aus Politik, Kultur und dem studentischen Leben
...studiert Physik im Master und fotografiert seit Herbst 2019 für den ruprecht. Von Ausgabe 200 bis Ausgabe 208 leitete er das Online-Ressort, von Ausgabe 205 bis 210 die Bildredaktion.
…studiert Jura und schreibt seit 2024 über das, was Heidelberg bewegt.
...studiert Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft im Bachelor und schreibt seit Frühling 2024 für den ruprecht, wo er sich für alles von internationaler Politik bis hin zum Studileben in Heidelberg interessiert
...studiert Physik und schreibt seit Oktober 2019 für den ruprecht. Besonders gerne widmet sie sich Glossen, die oft das alltägliche Leben sowie wissenschaftlichen oder politischen Themen. Sie leitete erst das Ressort Hochschule und später das Ressort Wissenschaft.